
Sammlung Moses Mendelssohn Akademie (Halberstadt)
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Zum Andenken für Benjamin Hirsch von L. Löb
Manuskripte kabbalistischer Texte aus einer ehemaligen jüdischen Bibliothek in Halberstadt wiederentdeckt
Im November 2022 stellten der Landesheimatbund Sachsen-Anhalt e. V. (LHB) und der Museumsverband Sachsen-Anhalt e. V. (MV) dem Berend Lehmann Museum für Jüdische Kultur und Geschichte ihren Archiv-Buchscanner zur Verfügung. Für mehrere Monate konnten das Museum sowie die Vereine aus Halberstadt und Umgebung ihr Archivgut scannen. Unter den digitalisierten Archivalien war auch ein Jahrhunderte altes Buch aus der Bibliothek der Familie Hirsch aus Halberstadt, das die Nachfahrin Julia Hirsch dem Berend Lehmann Museum zum Scan anvertraute.
Julia Hirsch aus New York steht seit 2006 in engem Kontakt mit der Moses Mendelssohn Akademie Halberstadt. Anlässlich eines Treffens von Nachfahren aus Halberstädter jüdischen Familien stiftete sie im Mai 2022 für die Sammlung der Moses Mendelssohn Akademie ein altes, vermeintliches „Buch“ aus den Überresten des Bibliotheksbestandes ihres Vaters Menko Max Hirsch (Abb. 8/10). Erweckt das in rotes Leder gebundene und mit einer Widmung versehene Objekt zunächst den Anschein eines Buches, so wird dieser Eindruck später nach genauerer Untersuchung widerlegt. Die in Gold geprägte Widmung auf dem roten Einband lautet: „Zum Andenken für Benjamin Hirsch von L. Löb“ (Abb. 1).

Sammlung Moses Mendelssohn Akademie (Halberstadt)
Abb. 8: Menko Max Hirsch (1896–1951).

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Abb. 10: Dr. Abraham Hirsch (1867–1920) mit seiner Frau Mathilde, geb. Kulp (1870–1947), und Menko Max Hirsch.

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Abb. 1: Das „Buch“ mit einer Widmung „Zum Andenken für Benjamin Hirsch von L. Löb“.
Julia Hirsch stammt aus der Halberstädter Unternehmerfamilie Hirsch. Sie selbst ist schon im Exil in Antwerpen geboren. Ihr Vorfahr Aron Hirsch (1783 – 1842) gründete 1806 in Halberstadt einen Metallhandel. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen als Produktionsstätten der Kupferhammer in Ilsenburg und das Messingwerk bei Eberswalde dazu. Das Unternehmen agierte sehr erfolgreich. Bemerkenswert ist, dass der Gründer Aron Hirsch nicht nur Geschäftsmann, sondern auch jüdischer Gelehrter war. Er sollte eigentlich, wie sein Vater, Rabbiner an der Halberstädter „Klaus“, dem jüdischen Lehrhaus, werden (Abb. 4 – 6). Die Tradition der religiösen Bildung erhielt sich in der Familie. Die Söhne absolvierten ein Hochschulstudium im Bereich Metallurgie und erfuhren in jedem Fall eine tiefgreifende religiöse Bildung. In diesem Kontext entstanden in den verschiedenen Zweigen der Familie Hirsch umfangreiche Bibliotheken, in denen sich neben den deutschen Klassikern, zeitgenössischer Literatur und religiöser „Gebrauchsliteratur“ auch wertvolle hebräische Drucke und Handschriften befanden. Die Bibliotheken existieren nicht mehr. Sie mussten auf der Flucht und später im Exil aus Not verkauft werden. Nur erhaltene Fotos und Kataloge vermitteln einen Eindruck davon1 (Abb. 7/9).

Städtisches Museum Halberstadt
Abb. 4: Blick nach Osten auf den Toraschrein.

Städtisches Museum Halberstadt
Abb. 5: Blick nach Westen auf die Frauenemporen.

Städtisches Museum Halberstadt
Abb. 6: Barock-Synagoge Halberstadt, zerstört 1938. Die jüdische Gemeinde Halberstadts zählte bis zu ihrer Vernichtung im Nationalsozialismus neben Frankfurt (Main) zu den wichtigsten Zentren jüdischen Lebens in Mitteleuropa.

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Abb. 7: Teilansicht der Bibliothek in Halberstadt, Domplatz 44.

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Abb. 9: Menko Max Hirsch in seiner Bibliothek in New York 1948.
Im Zweiten Weltkrieg wurde die Bibliothek von Menko Max Hirsch in Antwerpen eingelagert und kam direkt nach Kriegsende nach New York, wohin die Familie unter schwierigen Umständen nach dem Überfall der Deutschen Wehrmacht auf die Niederlande im Mai 1940 geflohen war. Menko Max Hirsch sah sich gezwungen, die Bücher Stück für Stück zu verkaufen. Die Titel der verkauften Bücher und die Preise, die er dafür erzielte, sind als Notizen erhalten. 1951 verstarb Menko Max Hirsch im Alter von 55 Jahren überraschend. Den Restbestand der Bibliothek erbte der älteste Sohn Abraham, der noch 1927 in Halberstadt geboren war. Der Buchbestand dezimierte sich im Laufe der Jahre weiter, etwa durch einen Wasserrohrbruch. Julia Hirsch erhielt schließlich 1994 von der Witwe ihres verstorbenen Bruders die Überreste der Bibliothek.2
Im Mai 2022 nahm Julia Hirsch ein Stück aus dem ererbten Bücherbestand nach Deutschland mit. Bei dem in Hebräisch verfassten „Buch“ wusste sie nicht, worum es sich dabei handelte. Der Empfänger des rot eingebundenen, unbekannten Exemplars war ihr Urgroßvater Benjamin Hirsch, der 1840 in Halberstadt geboren wurde und 1911 in Karlsruhe verstarb (Abb. 11). Dem „Kommerzienrat“ Hirsch gelang die Entwicklung des Metall- und Hüttenunternehmens zu weltweiter Bedeutung.
Glücklicherweise nahm an dem oben genannten Treffen im Mai 2022 auch Prof. Dr. Joanna Weinberg teil. Sie stammt ebenfalls aus einer alteingesessenen Halberstädter jüdischen Familie und ist Spezialistin für hebräische Handschriften an der Universität Oxford. Nach einer ersten Sichtung durch sie war klar, dass es sich um Handschriften handelt, die im 19. Jahrhundert als Geschenk zu einem Buch gebunden worden waren. Joanna Weinberg stellte fest, dass es sich um mehrere Texte handelt, die von unterschiedlichen Schreibern kopiert worden waren. Ihre Herstellung schätzte sie auf das 17. Jahrhundert. Mehr konnte in Halberstadt nicht ermittelt werden. Wegen des fragilen Zustands blieb das „Buch“ in Halberstadt und reiste nicht mit nach Oxford (Abb. 3).

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Abb. 11: Benjamin Hirsch (1840–1911).

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Abb. 3: Ansicht von dem aufgeschlagenen „Buch“.
Eine tiefergehende Bearbeitung ermöglichte der von Landesheimatbund und Museumsverband zur Verfügung gestellte Buchscanner. So konnten die Manuskripte kontaktlos, ohne Schaden zu nehmen, gescannt und die Digitalisate an Joanna Weinberg weitergeleitet werden.
Eine erste Untersuchung durch Dr. Agata Paluch, jetzt wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Judaistik an der FU Berlin, ergab, dass es sich tatsächlich um Handschriften aus dem 17./18. Jahrhundert handelt. Es sind kabbalistische Texte aus Safed, dem Zentrum der Kabbala im Norden des heutigen Israel. Als Kabbala werden mystische Überlieferungen des Judentums bezeichnet.
Das Exemplar umfasst 303 Bögen, die, laut Agata Paluch, auf das Buchformat von 20 Zentimetern Höhe und 16 Zentimetern Breite beschnitten wurden. Sie datiert den Entstehungszeitraum auf 1690 bis 1724.
Auf dem ersten Bogen findet sich ein Eigentümervermerk in aschkenasischer Kursivschrift, den Agata Paluch auf das späte 18. Jahrhundert schätzt:
ץנימ יול תיבמ ׳טקה ללה ‘נה ינוהמ יתינק ינוק .| Zu Ehren meines Schöpfers habe ich, der bescheidene Mainz vom Stamme Levi, von meinem Vermögen das erwähnte Buch gekauft (Abb. 2).
Die Texte hat Agata Paluch als folgende identifiziert:

Jutta Dick

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Abb. 2: „Zu Ehren meines Schöpfers habe ich, der bescheidene Mainz vom Stamme Levi, von meinem Vermögen das erwähnte Buch gekauft.“
Weitere spannende Ergebnisse der Untersuchung sind zu erwarten. Von besonderem Interesse ist die
Auswertung der Notizen, die in den Texten zu finden sind. Die weiterführende große Frage ist zudem,
ob es möglich sein wird, mittels der erhaltenen Verzeichnisse, Fotos und weiterem Quellenmaterial
die Bestände der Hirsch’schen Bibliotheken zu rekonstruieren.
Jutta Dick
studierte Germanistik und Geschichte in Köln. Sie arbeitete an verschiedenen Institutionen zu deutsch-jüdischer Geschichte. Seit 1995 entwickelt sie die Stiftung Moses Mendelssohn Akademie Halberstadt, seit 2001 gemeinsam mit dem Berend Lehmann Museum | Jüdische Geschichte und Kultur. ⇆ dick@mma-hbs.de
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1)
Vgl. Jutta Dick: Frucht vom Baum des Lebens. Menko Max Hirsch und die Sammlung der Rechtsgutachten Peri Ez Chajim. In: Karin Bürger u. a. (Hg.): Soncino – Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte (Europäisch-jüdische Studien, 17). Berlin, Boston (Mass.) 2014, S. 113–124.
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2)
Eine weitere Bibliothek geht vermutlich auf Scholaum/Salomon Hirsch (1827–1859) zurück, vielleicht sogar auf den Unternehmensgründer und jüdischen Gelehrten Aron Hirsch. Auf Scholaum/Salomon Hirsch verweist ein kalligrafisch gestalteter Katalog des Buchbestands. Diese Bibliothek gelangte nach den Stationen Berlin, München, Zürich und erneut München 1933 nach London, wohin die Familie des Nachfahren Josef Hirschs, gleich nachdem die Nationalsozialisten an die Macht gekommen waren, emigriert war. Der 1924 geborene Sohn Aron Hirsch wanderte in den 1960er-Jahren nach Israel aus. Es ist nicht bekannt, ob er die umfangreiche Familienbibliothek mitnahm. Heute befindet sich in der Familie nur noch ein kleiner Bestand. Vgl. Jutta Dick (Hg.): Koscher, Klaus und Kupfer. Berend Lehmann Museum Halberstadt. Begleitband zur Ausstellung (Veröffentlichungen der Moses Mendelssohn Akademie Halberstadt zum Judentum in Mitteldeutschland, 1). Berlin 2021, S. 104–106.