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Stoffe für die Ewigkeit – Wie synthetische Textilien die Bekleidungsindustrie der DDR revolutionieren
Mit dem Aufstieg der Chemieindustrie der DDR ziehen Plaste und Elaste in die Kleiderschränke der DDR ein: Knitterfreie, reißfeste und formbeständige Kleidung aus Grisuten und Präsent 20 dominiert jahrzehntelang die Modewelt im Osten. Doch an dem Kittelschürzenstoff lassen sich bald die Probleme des sozialistischen Staates ablesen: Während hochwertige Kleider für den Export bestimmt sind, sehnen sich die DDR-Kund:innen nach Kleidung aus dem Westen.
„Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit“ – Das Motto der Zentralen Chemiekonferenz in Leuna im November 1958 wird in der Folgezeit zum Programm der gesamten DDR-Chemieindustrie. Zwar kann die Chemieproduktion ihre gesteckten Planziele – die Verdopplung der Produktion bis 1965 – nicht erreichen, doch ihre Anstrengungen tragen bald erste Früchte: Dederonkleider und die begehrten Dederonhemden kommen in den Handel. Mit ihnen soll das aufwendige Bügeln von Baumwollhemden mit Kragen und Manschetten bald der Vergangenheit angehören. Grundlage für Dederon und dessen West-Äquivalent Nylon sind Polyamidfaser, die sich die US-Amerikaner Wallace Hume Carothers und Julian Werner Hill bereits 1935 haben patentieren lassen. Durch die Herstellung von Dederon in der DDR ist die Synthetikfaser ab 1959 erstmals nicht mehr nur denjenigen DDR-Bürger:innen vorbehalten, die Verwandte in der Bundesrepublik haben.
Eine wichtige Voraussetzung für den weiteren Ausbau der chemischen Industrie ist die Ressource Erdöl, über die die DDR kaum selbst verfügt. Erst durch Verträge mit der Sowjetunion über die Lieferung kostengünstigen Erdöls, den Bau einer knapp 5.000 Kilometer langen Erdöltrasse und die Errichtung eines Erdölverarbeitungswerkes in Schwedt kann die DDR Plaste und Elaste in großem Stil produzieren. Die vor allem in den Chemiefaserwerken in Premnitz und Guben hergestellten Polyesterfaserstoffe und die daraus erzeugten Textilien erhalten den Handelsnamen Grisuten. In der Bundesrepublik heißen sie Trevira. Grisuten dominiert in den nächsten Jahrzehnten die Textil- und Bekleidungsindustrie der DDR.
Den propagandistischen Höhepunkt bildet in diesem Zusammenhang die Errichtung eines völlig neuen Betriebes, des VEB Textilkombinates Cottbus. „In automatisierter Produktion werden hier auf Großrundstrickmaschinen textile Flächen für Kostüme und Anzüge gefertigt – eine völlig neue Technologie in der Konfektionsindustrie, mit der unsere Republik zur Weltspitze vorstieß“, stellt das SED-Organ Neues Deutschland anlässlich der Werkseröffnung fest. Als das Werk nach einem Jahr Bauzeit am 29. September 1969 von Erich Honecker höchstpersönlich übergeben wird, handelt es sich um einen der modernsten und größten Produktionsstandorte der Textilindustrie in Europa. Allein bis zum Jahresende wird hier Stoff für 70.000 Damenkostüme und 46.000 Herrenanzüge hergestellt. In dem lobenden Zeitungsartikel bleibt allerdings unerwähnt, dass die Großrundstrickmaschinen aus Westdeutschland, die Texturiermaschinen aus Frankreich und die Färberei aus der Schweiz kommen. Insgesamt hat der Staat mehr als 1,5 Milliarden DDR-Mark – fast drei Prozent des gesamten Jahreshaushaltes der DDR – in den Aufbau und die Ausstattung dieses 1968 begonnene Automatisierungsprojektes zum „Ausbau der volkswirtschaftlichen Strukturlinie Polyester“ investiert.

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Es ist der Chemieindustrie zu verdanken, dass Plaste und Elaste in die Kleiderschränke der DDR einzieht.
Polyester zum 20. Geburtstag
Der im zwanzigsten Jahr der DDR kreierte vollsynthetische Polyesterstoff erhält werbewirksam den Namen Präsent 20 – sozusagen ein Geburtstagspräsent des Staates an seine Bevölkerung. Zunächst wird dieser Begriff vor allem für die vom VEB Textilkombinat Cottbus entwickelte Kollektion von hochwertigen Damenkostümen und Herrenanzügen genutzt. Präsent 20 zeichnet sich dadurch aus, dass er äußerst belastbar, reiß-, scheuerfest und elastisch ist. Zudem lassen sich Stoffe aus Polyesterfasern leichter färben oder mit bunten Mustern bedrucken als Naturfasern. Besonders populär ist Präsent 20 aber wegen seiner Pflegeleichtigkeit. Die Kleidungsstücke sind waschmaschinenfest, knitterfrei, formbeständig und einfach zu reinigen. Das erleichtert die Hausarbeit und macht Präsent 20 schnell bevorzugten Bekleidung für Werktätige. Der Handel wirbt für den Polyesterstoff mit dem Slogan „Waschen, trocknen, tragen“.
Weil der Stoff wenig atmungsaktiv ist, kommen Träger:innen von Anzügen und Kostümen aus Präsent 20 schon mal ins Schwitzen. Wegen des Wärmestaus umgibt Kleidung aus reinem Grisuten, die nicht regelmäßig gereinigt wird, nicht selten ein unangenehmer Geruch.
Lange Schlangen vor Präsent 20-Verkaufsstellen
Obwohl die Anzüge und Kostüme anfangs etwa die Hälfte eines durchschnittlichen Monatslohns kosten, sind sie sehr begehrt. Vor der Leipziger Präsent 20-Verkaufsstelle auf dem Rathausplatz, die Ende 1969 neu eröffnet hat, bilden sich über Wochen hinweg lange Schlangen. Ähnlich verhält es sich in auch in anderen Bezirksstädten wie etwa Magdeburg, Halle und Gera, in denen die Geschäfte bevorzugt beliefert werden. Im Halleschen Konsument-Warenhaus an der Großen Ulrichstraße wird extra eine Abteilung für das Präsent 20-Sortiment geschaffen.
Die klassischen Anzugformen ergänzt ab 1970 ein ausgedehntes farbenfrohes Sortiment an Freizeitbekleidung: Sommerkleider aus Jerseystoff, Flanellblousons, Gürteljacken, Sporthosen und Unterwäsche werden nun aus Präsent 20 gefertigt. Um Produktionszeit und -kosten gering zu halten, sind die im Handel erhältlichen Modelle oft schlicht gestaltet. Die Konfektionsbetriebe verzichten in der Regel auf aufwendige Schnittmuster und setzen die Kleidungsstücke aus wenigen Teilen zusammen. Hochwertig verarbeitete Modelle, wie beispielsweise glitzernde Lurexkleider mit metallischem Effektfaden, sind teuer und nur schwer zu bekommen, denn die DDR verkauft den Großteil ihrer besten Textilprodukte ins Ausland. In den siebziger Jahren exportiert allein das Textilkombinat Cottbus jährlich bis zu 5 Millionen Kleidungsstücke nach Westeuropa, sodass so manche:r Bundesbürger:in – ohne es zu wissen – ein Kleidungsstück aus Präsent 20 getragen hat.
Angesichts der vielfältigen Verwendbarkeit der Fasern beschließt das zuständige Ministerium für Leichtindustrie 1973, die Polyesterproduktion massiv zu steigern. Neben Cottbus werden weitere Produktionsstandorte in Gera und Glauchau errichtet. Zehn Jahre nach seiner Einführung ist jedes zweite in der DDR getragene Kostüm und jeder dritte Herrenanzug aus Präsent 20 oder Grisuten gefertigt. Darüber hinaus werden Grisuten-Stoffe ab Mitte der siebziger Jahre auch für Haushalts- und Gebrauchstextilien wie Gardinen, Tischdecken, Möbelbezugsstoffe und Teppiche verwendet.
Viele Hobbyschneider:innen, denen das Modeangebot der volkseigenen Betriebe nicht zusagt oder zu teuer ist, kaufen die elastischen und leicht zu verarbeitenden Stoffe in der HO oder im Konsum und nähen sich ihr Wunschkleid an der heimischen Nähmaschine Veritas selbst. Modezeitschriften wie die Sibylle, die Pramo und die Saison fördern die Kreativität der Konsumentinnen und Konsumenten durch anspruchsvolle Fotos neuer Modelle, für die entsprechende Schnittmusterbögen beiliegen oder beim Verlag für die Frau bestellt werden können. Insbesondere berufstätige Frauen schließen so in ihrer Freizeit die Angebotslücken der Planwirtschaft der DDR. Wer nicht selbst nähen kann oder will, lässt seine Präsent-Kleidung in privaten Schneiderwerkstätten anfertigen.
Zurück zur Natur
In den achtziger Jahren fällt Kleidung aus Kunstfasern zunehmend aus der Mode. Allen Vorteilen zum Trotz gilt das einst hochmoderne Material nun als nicht mehr zeitgemäß – Naturfasern sind wieder in. Die devisenarme DDR kann auf diesen gewandelten Modegeschmack allerdings nicht reagieren, indem sie etwa mehr Baumwolle importiert, und probiert stattdessen zu kaschieren, was sie nicht verändern kann: Sie entwickelt neue Herstellungsverfahren, die das Tragegefühl der synthetischen Stoffe verbessern sollen. Varianten wie Präsent-flanell oder Präsent-jersey-ripp kommen auf den Markt, können jedoch die Bedürfnisse der Konsument: innen nicht befriedigen. Obwohl Kunstfasern heutzutage zum Beispiel in Outdoorbekleidung längst ein Revival feiern, verschwinden Grisuten- und Präsent 20-Stoffe mit dem Ende der DDR vom Markt – der plötzlichen unbegrenzten Verfügbarkeit von Kleidung aus den Vereinigten Staaten und Westdeutschland hat die textilverarbeitende Industrie der DDR wenig entgegenzusetzen.