
Falk Wenzel
Artikel
Zum Beispiel Bitterfeld-Wolfen
Der Osten feiert sich selbst – ausgerechnet in Bitterfeld-Wolfen, einer Gegend, in der die letzten ausschweifende Freudenfeste schon ein paar Jahrzehnte zurückliegen. Das Sachsen-Anhalt-Journal hat mit Aljoscha Begrich aus dem Leitungsteam des OSTEN-Festivals über Feuerwehrleute, Filmindustrie und Fördermittel gesprochen.
Es sind nur knapp fünf Kilometer, die Besucher:innen des OSTEN-Festivals von der Autobahn A9 kommend zurücklegen müssen, um das Festivalgelände an der Alten Feuerwache in Wolfen zu erreichen. Aber die Strecke erzählt visuell recht gut die Prämisse, unter der das selbsternannte „Festival für Kunst und gegenseitiges Interesse“ ins Leben gerufen wurde. Ein großmaschiges Straßenraster durchzieht das Areal A des weitläufigen Chemieparks Bitterfeld-Wolfen. Auf einigen Quadraten stehen schlichte Hallen und Container, die an die bedeutende Industriegeschichte der Region erinnern. Die ausgedörrte Vegetation auf den vielen leeren Grundstücken dazwischen weckt an diesem heißen Junitag hingegen eher Assoziationen an verlassene Goldgräberstädte in Amerikas mittlerem Westen. Die Straßen sind gesäumt von AfD-Wahlplakaten für die bevorstehenden Kommunal- und Europawahlen.
„Natürlich ist es viel bequemer, nur mit der eigenen Bubble zu reden.“
„Das Gefühl, abgehängt zu sein, ist bei den Menschen hier in Bitterfeld-Wolfen sehr ausgeprägt“, fasst Kurator und Festivalleiter Aljoscha Begrich die Situation zusammen: „obwohl die Gegend sowohl per Schiene als auch per Autobahn hervorragend an die Ballungsräume Berlin und Halle-Leipzig angebunden ist. Da gibt es einen Widerspruch zwischen Gefühl und Wirklichkeit.“ Tatsächlich setzen bei der Europawahl wenige Tage später 36,4 Prozent der Einwohner:innen der Doppelstadt im Chemiedreieck ihr Kreuz bei der Partei, den der Sachsen-Anhalter Verfassungsschutz seit November 2023 als „gesichert rechtsextrem“ einstuft. „Als wir 2020 für das erste OSTEN-Festival nach Bitterfeld gekommen sind, haben wir uns erst vorgenommen: ‚Wir reden nicht mit Rechten‘“, erinnert sich Aljoscha Begrich und bezieht sich auf sein Festivalteam, das überwiegend aus Großstädter:innen besteht, „aber dann haben wir schnell gemerkt, dass sich das so nicht durchziehen lässt.“ Das sei auch gut so, findet er heute: „Natürlich ist es viel bequemer, nur mit der eigenen Bubble zu reden, über einen ‚Fall‘, mit dem alle Beteiligten ansonsten nichts zu tun haben. Das beobachte ich oft, wenn es in der öffentlichen Debatte um ‚den Osten‘ geht.“ Sämtliche Statistiken zu dem Thema unterstützen seine Beobachtung: Keine einzige überregionale Zeitungsredaktion und kein DAX-Unternehmen haben ihren Sitz in einem ostdeutschen Flächenland. Im Jahr 2019 wurde keine Führungsposition an den 81 staatlichen Universitäten von Ostdeutschen bekleidet – inzwischen sind es immerhin vier. Ostdeutsche sind mehr als 30 Jahre nach der Wende in fast allen gesellschaftlichen Bereichen unterrepräsentiert.
„Greif zur Feder, Kumpel!“

LHBSA
Aljoscha Begrich vor einer Freiluftausstellung auf dem Festivalgelände
Aljoscha Begrich und seine Mitstreiter:innen, die in dem Verein Kulturpark e.V. organisiert sind, wollen es anders machen: Nicht nur über den Osten, sondern im Osten mit Ostdeutschen über den Osten reden. Das sei nicht immer leicht, gibt er zu: „Das Narrativ in Orten wie Bitterfeld und Wolfen ist extrem gekennzeichnet durch Verlust, der das viele Gute, das es hier gibt, überlagert. Und die wenigen Leute, die noch da sind, haben sich ein Stück weit darin eingerichtet, sich auf der Verliererseite zu sehen.“ Er kann das gut nachvollziehen: „Der Kulturpalast Bitterfeld war zum Beispiel vor ein paar Jahrzehnten echt der Knaller.“ Tatsächlich wurden hier große Unterhaltungsshows für das Fernsehen der DDR aufgezeichnet, regelmäßig gab es Konzerte von nationalen und internationalen Künstler: innen. Berühmtheit erlangte der Kulturpalast 1959, als Walter Ulbricht sich von hier aus auf den „Bitterfelder Weg“ machte, der den Anfang einer sozialistischen Kulturpolitik markierte. Mit der Wende begann der Verfall, der 2017 schließlich fast zum Abriss führte. Doch in der Bitterfelder Bevölkerung regte sich Widerstand, der Kulturpalast – mittlerweile einer der letzten seiner Art – blieb stehen. Seine Zukunft ist weiterhin ungewiss.
Im vorigen Jahr fand an dem geschichtsträchtigen Ort das erste OSTEN-Festival statt. „Jetzt im Nachhinein hat man das Gefühl: ‚Das macht alles total Sinn, dass wir hier in Bitterfeld-Wolfen sind‘“, erinnert sich Aljoscha Begrich an die Anfänge des Festivals, „aber Bitterfeld ist nur ein Beispiel. Wir haben uns vorab mehrere Kulturhäuser angeschaut und wollten ursprünglich mit dem Festival eigentlich durch die ostdeutschen Bundesländer touren.“ Ein bisschen ist das auch geglückt: In diesem Jahr tourte das OSTEN-Festival immerhin jenseits des Bindestrichs der Doppelstadt Bitterfeld-Wolfen und bespielte die Alte Feuerwache in Wolfen mit Ausstellungen, Workshops, Theaterstücken und Konzerten, sowie Performances, Filmvorführungen und Gesprächsformaten. In der Woche zwischen den beiden Festivalwochenenden laufen junge Leute durch die langen Gänge und unzähligen Räume der Feuerwache. In einem großen Saal proben drei junge Frauen gerade eine bevorstehende Aufführung. Nebenan trifft sich das Festivalteam zu einer Besprechung. Wo einst Feuerwehrautos zu ihren Einsätzen ausrückten, befördert nun eine große rote Rutsche die Festival- besucher:innen aus dem Obergeschoss der Wache ins Freie. Von einem Geländer prangt in großen, feuerwehrroten Lettern der Schriftzug „FRAGEN FRAGEN“. Eine junge Frau, die vor der Feuerwache an einer Bierzeltgarnitur sitzt, tippt konzentriert an ihrem Laptop.

Maryna Makarenko
Das Festivalteam in der Alten Feuerwache
„Eine entspannte Art sich an die DDR-Zeit zu erinnern.“
Mit Fingerspitzengefühl in die Feuerwache
Dass in der Industriestadt Wolfen nun kurzzeitig ein lebendiges Durcheinander von Besucher:innen aus der Großstadt herrscht, ist dem Fingerspitzengefühl der Organisator:innen zu verdanken: „Was man nicht unbedingt sieht, ist, dass auch die Alte Feuerwache für die einheimische Bevölkerung mit Verlust verbunden ist“, erzählt Aljoscha Begrich. Die glorreiche Vergangenheit als Werkfeuerwehr der Filmfabrik endete kurz nach der Wende. Vor zwei Jahren wurde sie mit der Ortswehr Wolfen zusammengelegt und musste den Standort in der historischen Feuerwache nach gut 100 Jahren aufgeben. „Bei einigen langjährigen Feuerwehrleuten sitzt der Schmerz noch tief“, resümmiert Aljoscha Begrich, und diese Wunden wollen er und seine Kumpan:innen nicht aufreißen. Sie veranstalteten ein Grillfest, um von den Feuerwehrleuten zu erfahren, was ihnen der Ort bedeutet. „Dabei ging es viel um Wertschätzung“, fasst Aljoscha Begrich die Gespräche zusammen. In einem Raum neben der Getränkebar hängt deswegen eine kleine Ausstellung zur Geschichte des Gebäudes. Inmitten der kreativen Zwischennutzung, die so ähnlich sicherlich auch in den Szenevierteln von Halle, Leipzig und Berlin stattfinden könnte, spürt man an jeder Ecke den respektvollen Umgang der Zugereisten mit dem Erfahrungsschatz der Einheimischen. Diese gelungene Mischung aus lokaler Bodenständigkeit und kosmopolitischer Allüre ist einer der Gründe, warum sich überregionale Medien vor Lob überschlagen, wenn sie von dem Festivals in der Filmstadt Wolfen berichten: In seinem Zeit-Artikel Gutes aus der Giftfabrik adelt Carl Hegemann das OSTEN-Festival als einen „großen Erfolg“ und „einen völlig zwanglosen Akt der Begegnung“, in dem sich die Einheimischen „nicht von ahnungslosen oder arroganten Besserwissern auf Durchreise überfallen, sondern ernst genommen und herausgefordert“ fühlen. Im Neuen Deutschland bezeichnet Larissa Kunert das Festival als „Avantgarde“, weil ihm „etwas Außergewöhnliches“ gelinge, nämlich „anregende Kunst mit einem konkreten Bezug zu diesem Ort und den hier lebenden Menschen herzustellen.“ Deutschlandfunk Kultur-Reporter Vladimir Balzer zeigt sich begeistert von den vielen „hochinteressanten Projekten, die die Menschen vor Ort einladen. Das ist kein abstraktes Kunstfestival, das hier wie ein Ufo landet und wieder geht.“ Die Ausrichtung des Osten-Festivals sei ihm zufolge „eine sehr entspannte Art sich an die DDR-Zeit zu erinnern.“
Von Barby nach Berlin und in die Welt
Aljoscha Begrich wurde selbst 1977 in Barby geboren und hat seine Kindheit und frühe Jugend in Gnadau verbracht, bevor seine Familie mit dem Fall der Mauer nach Berlin zog. Sein Studium und seine Arbeit als Dramaturg und Kurator führten ihn nach Chile, Argentinien, Mexiko, Dänemark und in den Iran. Trotz seines kosmopolitischen Werdegangs ist der Osten für ihn mehr als eine Himmelsrichtung: „Der Osten ist eine gemeinsame Erfahrung der Menschen in diesem Raum, den wir einmal DDR genannt haben. Dazu gehört die Arbeitslosigkeit der Eltern in den neunziger Jahren, geschlossene Fabriken, ABM-Maßnahmen, aber auch die Baseballschlägerjahre und das bis heute nachwirkende, vage Gefühl, dass man nicht gehört wird, wenn man leise ist.“ Aljoscha Begrich entstammt einer Pastorenfamilie, was nach eigener Aussage früh seine Sicht auf die SED und die DDR formte: „Ich merke selbst während des Festivals – beispielsweise, wenn ich mit Studierenden spreche, die allesamt der Nachwendegeneration angehören – dass ich einen ziemlich engen Blick auf diese Zeit und diesen Staat habe.“
„Blümchen und Idylle – das ist doch nicht, was geil ist an Bitterfeld.“
Er habe selbst mehr Anknüpfungspunkte mit dem DDR-Bezirk Halle, als mit dem heutigen Sachsen-Anhalt, führt er aus: „Bezirk Halle, da war irgendwie klar, das ist Chemie und dann eben die Universitätsstadt Halle. Aber das Bundesland Sachsen-Anhalt bleibt für mich abstrakt.“ Politisch fehle es in vielerlei Hinsicht an Visionen, kritisiert er, „und auch die Kulturförderung ist ein echtes Brett.“ Die Fortführung des Osten- Festivals hänge momentan in der Luft, weil nicht geklärt sei, woher in Zukunft das Geld kommen soll: Während die ersten beiden Ausgaben überwiegend aus Fördermitteln des Bundes finanziert wurden, sei es nun am Land Sachsen-Anhalt, das Osten-Festival zu verstetigen. „Da ist aber wenig Geld übrig für alles, wo nicht Händel oder Luther vorne draufsteht“, beklagt der Festivalmacher. Dabei sei es doch gerade die Stärke des Formats, dass das Osten-Festival – im Gegensatz zu Opern, klassischer Musik und Museen – auch diejenigen erreicht, die sich nicht sowieso schon für Kultur interessieren. Es sei deshalb denkbar, dass das Osten-Festival zukünftig in einem anderen Bundesland stattfindet. „Man weiß hier manchmal nicht, was Sachsen-Anhalt eigentlich will“, fasst er das Dilemma zusammen. Vor diesem Hintergrund blick er fast anerkennend auf Sachsen-Anhalts östliches Nachbarland: „Sachsen hat eine ziemlich deutliche Vision für sich selbst, auch wenn sie mir nicht gefällt, weil sie so historisierend und rückwärtsgewandt ist.“ Kompliziert sei bisweilen auch die Beziehung der ehemals selbstständigen Städte Bitterfeld und Wolfen zueinander, findet Aljoscha Begrich, nachdem er auf beiden Seiten dieser behördlichen Vernunftehe ein Festival ausgerichtet hat: „Kürzlich stand ich mit dem Auto an einer Straßenkreuzung und sehe vor mir ein Straßenschild: Nach Bitterfeld geht‘s in die eine, nach Wolfen in die andere Richtung. Das fand ich sehr passend. Bitterfeld, das war immer schon eher Blaumann und Braunkohlebergbau, ganz ehrlich und bodenständig. Wolfen ist da – stark beeinflusst durch die Filmfabrik – im Vergleich eher etwas bürgerlicher, schicker. Ich glaube, viele Einwohner:innen der beiden Städte empfinden das heute noch so.“ Solche vermeintlichen Dissonanzen stören den Kulturschaffenden nicht, im Gegenteil: „Gerade diese Unschärfen, die aus den unterschiedlichen Blickwinkeln entstehen, machen den Osten ja so interessant.“ Der Osten sei „etwas Unklares, Kompliziertes, Verwirrendes und Gegenwärtiges“, fasst er die Anziehungskraft zusammen. Diese vermeintlichen Schwachstellen könne das Land Sachsen-Anhalt besser umarmen, anstatt aus ihnen einen Minderwertigkeitskomplex abzuleiten. Aljoscha Begrich illustriert seinen Punkt mit der Landesgartenschau- Bewerbung von Bitterfeld-Wolfen: „Die schlussendlich erfolglose Bewerbung, die sie abgegeben haben, war voll mit idyllischen Parklandschaften und Blümchen – das verstehe ich nicht. Das ist doch nicht, was geil ist an der Auseinandersetzung mit der Natur in Bitterfeld.“

LHBSA
Bitterfeld in die eine, Wolfen in die andere Richtung