
Pressestelle Landkreis Jerichower Land
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Weibliche Biografien inspirieren bis heute
Seit mehr als 20 Jahren sind die FrauenOrte-Tafeln mit der rotgrünen Blume in ganz Sachsen-Anhalt zu finden. In 37 Städten und Gemeinden weisen sie landauf, landab an authentischen Plätzen auf die Biografien bedeutender und besonderer Frauen hin. Anke Triller, die das vom Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung geförderte Projekt FrauenOrte auf Landesebene koordiniert, stellt einige historische Sachsen-Anhalterinnen vor und erklärt, warum man sich auch noch Jahrhunderte später mit ihrem Leben und Wirken beschäftigen sollte.
Die in Buchform veröffentlichten Biografien bedeutender Männer erklimmen auffällig oft die Bestsellerlisten. Sind Frauenbiografien weniger spannend, nicht so bemerkenswert? Den Gegenbeweis erbringt das im Jahr 2000 gegründete Projekt FrauenOrte – Frauengeschichte in Sachsen-Anhalt. Die FrauenOrte Sachsen-Anhalt waren die ersten ihrer Art in Deutschland und die Idee wurde seitdem in sechs weitere Bundesländer (Niedersachsen, Brandenburg, Sachsen, Hamburg, Bremen und Nordrhein-Westfalen) exportiert.
Die historische Frauenforschung kann oft nur auf eine sehr spärliche Quellenlage zurückgreifen. Weibliche Lebenszeugnisse wurden von den meist männlichen Chronisten vielfach nicht gewürdigt oder bewahrt. Als Beispiel sei Elisabeth von Weida genannt, deren genaues Geburtsjahr nicht bekannt ist. Überliefert wurde, dass sie bis zu ihrem Tode 1532 Äbtissin des reichsunmittelbaren Damenstiftes im anhaltischen Gernrode war. Bereits 1521 unterstützte sie den Einzug der Reformation und intervenierte erfolgreich, als aufständische Bäuer:innen das Stift Gernrode zerstören wollten.
Weiterführende Informationen zu den Sachsen-Anhalter FrauenOrten finden Sie unter www.frauenorte.net. Die Geschichte(n) hinter den Tafeln sind als Video bei YouTube zu sehen oder auch als #frauenorte-der-podcast zu hören. Im Jahr 2024 werden folgende Jubiläen im Zusammenhang mit den FrauenOrten begangen: FrauenOrt Neuenburg bei Freyburg (Unstrut): 800 Jahre nachweisliches Verweilen von Elisabeth von Thüringen FrauenOrt Quedlinburg: 270. Promotionsjubiläum der Ärztin Dorothea Erxleben am 6. Mai FrauenOrt Helfta bei Lutherstadt Eisleben: 25 Jahre Wiederbelebung des durch die Mystikerinnen des 13. Jahrhundert bekannten Kloster St. Marien zu Helfta durch Aufbauarbeit und Einzug von Ziesterzienserinnen FrauenOrt Dessau im ehemaligen Landesbehördenhaus: 105 Jahre Einzug der ersten Frauen in Deutschlands Parlamente mit z.B. Marie Kettmann als Nachrückerin und einige Zeit einzige Frau im Anhaltischen Landtag.
Männliche Geschichtsschreibung prägt Blick auf die Vergangenheit
Warum aber sollten sich Sachsen-Anhalter:innen heutzutage mit den originären Frauenbiografien früherer Jahrhunderte beschäftigen? Eine Antwort kann heißen: Weil unser Blick auf die Geschichte vor allem durch die Darstellungen nachfolgender männlicher Chronisten geprägt und beeinflusst wurde.
Nur wenige wissen, dass die in Zerben im Jerichower Land geborene Elisabeth Freiin von Plotho die literarische Vorlage für Theodor Fontanes berühmte Romanfigur Effi Briest war. Zwar wurde die Adelige auch schuldig geschieden, starb jedoch im Gegensatz zu der Romanheldin nicht an gebrochenem Herzen. Das damalige Umgangsrecht traf sie deshalb mit voller Härte: Es verbot ihr fast 20 Jahre lang den Kontakt zu ihren Kindern. Elisabeth begann mit 34 Jahren ein zweites Leben als Krankenpflegerin. Sie arbeitete als Gesellschafterin einer Fabrikantentochter, in die sie sich vermutlich auch verliebte und wurde fast 99 Jahre alt.
Bedeutsam sind auch die Lebenswege von Editha und Theophanu, Ottonen-Frauen des 10. Jahrhunderts, der ungarischen Prinzessin und späteren Gräfin Elisabeth von Thüringen (1207 – 1231), sowie von Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst (1729 – 1796) der späteren Zarin Katharina, II., die jeweils einen Teil ihres Lebens im heutigen Sachsen-Anhalt verbrachten. Exemplarisch sind diese Frauenbiografien, da sie als Mädchen oder junge Frauen aus heiratspolitischen Gründen ihr vertrautes Zuhause verlassen mussten. Welche Bildung und charakterliche Erziehung schufen die Grundlagen, die sie auch in der Fremde eigene Wege und Wirkungsbereiche finden ließen?
Das Prettiner Schloss Lichtenburg war zuerst Sitz sächsischer Kurfürstinnen, dann Zuchthaus und Konzentrationslager. Was waren das für Frauen, die aus verschiedenen Gründen fliehen mussten
oder inhaftiert wurden? Die Künstlerin Petra Reichenbach stellt in ihrer Multimediainstallation die Biografien von fünf Kurfürstinnen der Renaissancezeit und fünf weiblichen KZ-Häftlingen unter
dem Nazi-Regime nebeneinander. Deren Schicksale zeigen, wie Diskriminierung und Verfolgung – ob aus Glaubens- oder anderen weltanschaulichen Gründen – zu allen Zeiten präsent waren.
Bedeutende Vorreiterinnen: eine Quedlinburger Ärztin, eine Kemberger Gelehrte, eine Bad Kösener Unternehmerin und eine Burger Schriftstellerin
Der Perspektivwechsel auf den weiblichen Teil unserer Landesgeschichte kann helfen, die Möglichkeiten einer Berufsausbildung, eines Studiums oder politischen Engagements von heute als keinesfalls selbstverständlich, sondern als das Vermächtnis früherer Generationen zu verstehen. Historische Frauenpersönlichkeiten wie die Quedlinburgerin Dorothea Erxleben können inspirierend auf die Menschen der Gegenwart wirken. Deutschlands erste promovierte Ärztin schrieb bereits als Zwanzigjährige gegen das weit verbreitete Vorurteil an, dass Frauen nicht zum wissenschaftlichen Studium und der Ausübung eines Berufs fähig wären. 2024 jährt sich ihre erfolgreiche Promotion an der Halleschen Universität, die sie als konsequente Antwort auf Vorwürfe der „Pfuscherey“, sowie Androhungen eines Berufsverbots vonseiten männlicher Kollegen, ablegte, zum 270. Mal. Zur gleichen Zeit wurde der damals 20-jährigen Kemberger Gelehrten Ernestine Christine Reiske Zugang zur „Gesellschaft der freyen Künste und Wissenschaften“ in Leipzig erteilt. Später trat sie nicht nur als Verlegerin und Erbverwalterin ihres Mannes auf, sondern veröffentlichte eigene Fachartikel, Übersetzungen aus dem Altgriechischen und unterhielt von Kemberg aus Briefverkehr zu vielen europäischen Gelehrten. In ihrer Geburtsstadt wurde sie jedoch erst einem größeren Publikum bekannt, weil sich eine Kemberger Ganztagsschule bewusst für sie als Namenspatronin entschied und seitdem fächerübergreifend im Unterricht mit ihrem Leben beschäftigt.

Heike Beck
Der FrauenOrt in Kemberg widmet sich Ernestine Reisk.
Der Bad Kösener FrauenOrt zeigt die inspirierende Arbeit der Unternehmerin Käthe Kruse und ihren weltweiten Einfluss auf die Puppenindustrie. Kaum jemand kennt aber ihre Autobiografie oder weiß, dass sie auch Rechtsgeschichte geschrieben hat, als sie erstmals einen künstlerischen Urheberschutz für ein Spielzeug gegen einen Branchenriesen gerichtlich durchsetzte.
Den diesjährigen 90. Geburtstag der Schriftstellerin Brigitte Reimann würdigte ihre Geburtsstadt Burg bei Magdeburg mit einem kulturellen Themenjahr und einem Stadtspaziergang, der sich biografisch bedeutsamen Burger Orten der Autorin widmet. Vor Kurzem erschien im Aufbau Verlag mit Ich bin so gierig nach Leben von Carsten Gansel die erste Reimann-Biografie. Ihren großen Durchbruch schaffte sie mit dem Jugendbuch Ankunft im Alltag (1961), dessen Titel einem ganzen Genre der DDR-Literatur den Namen Ankunftsliteratur gab. Trotz ihrer Bekanntheit der Zensur des DDR-Regimes ausgesetzt, scheute sie sich nicht, Tabuthemen anzupacken. Sie nutzte ihre Popularität, um immer kritischer auf Missstände des „real existierenden Sozialismus“ hinzuweisen, wie zuletzt mit ihrem Hauptwerk Franziska Linkerhand, bevor sie mit nur 43 Jahren einem Krebsleiden erlag.
Die FrauenOrte wollen Besucher:innen vor Ort und online dazu anregen, sich mit Frauenbiografien früherer Jahrhunderte zu beschäftigen und deren Lebenserfahrungen als Verständnis- und Inspirationsquelle für heutige Herausforderungen nutzen – sei es im Sinne von selbstbestimmtem Leben, beruflicher Verwirklichung, dessen Vereinbarkeit mit Familienleben und Elternschaft oder politischer Mitbestimmung auf allen gesellschaftlichen Ebenen.