
Landesheimatbund Sachsen-Anhalt
Artikel
Wallfahrt, wo einst Waffen knallten
Früher pilgerten die Menschen zu Wallfahrtsorten, um um Vergebung zu bitten. Heute wandern Tourist:innen entlang des Grünen Bandes in der Altmark, um unberührte Natur und endlose Weite zu erleben. Die Reisebuchautorin Amanda Hasenfusz findet, dass die beiden Gruppen bei genauerem Hinsehen eine Menge miteinander verbindet. Yulian Ide hat den Selbstversuch unternommen und seine Wanderschuhe geschnürt.
Während ich an diesem sonnigen Novembermorgen meine dicken Wollsocken und mein einziges Paar Schuhe, das den Titel „festes Schuhwerk“ verdient, anziehe, denke ich über Reliquien nach. Es erscheint
mir schon etwas absurd, dass Menschen im Mittelalter teils ganz alltäglich Gegenstände – Nägel, Stoffreste, Gebeine – so sehr mit religiöser Bedeutung aufgeladen haben, dass sich Gläubige von nah und fern in Bewegung setzten, um sie zu sehen oder zu berühren.
Zugegeben, im Jahr 2015 bin ich mit meiner Kommilitonin Katharina selbst schonmal von Berlin aus drei blutenden (und bei einem Brand zerstörten) Hostien im brandenburgischen Bad Wilsnack entgegengelaufen. Und obwohl wir artig alle 22 Dorfkirchen auf der 150 Kilometer langen Strecke besuchten, beschäftigten uns damals sehr irdische Fragen auf unserer Wallfahrt durch die Prignitz: Schaffe ich mein Studium? Werde ich einen Job finden, der mich erfüllt? Soll ich in Berlin bleiben oder wegziehen? Und warum gibt es in Brandenburg keine Spätis?
Ein Fuß vor den anderen. Schritt für Schritt. Die Zeit verschwimmt, dehnt sich, wird so unendlich, wie die grandiose Landschaft, die einen umgibt. Am Grünen Band der Altmark, haben Zeit und Raum eine andere Bedeutung. Wohin der Blick auch schweift: von Besiedlung keine Spur, dschungelartige Wildnis wechselt alle paar Kilometer mit naturnahem Offenland ab. Blätter rauschen. Tiere wandeln durch die Landschaft. Wolken ziehen. Kein Zivilisationslaut.
Die letzten Häuser des Dorfes Brietz, wenige Kilometer westlich von Salzwedel, sind kaum hinter mir am Horizont verschwunden, als ich mich frage, wann denn nun endlich die wohltuende Erleuchtung einsetzt. Ich bin ungeduldig. Die ersten Meter auf dem Landwirtschaftsweg, der aus dem Dorf herausführt, sind beschwerlich. Der Regen der letzten Tage hat ihn in eine matschige Piste verwandelt und Joppie, mein weißer Terrier, der fröhlich neben mir herdackelt, ist in kürzester Zeit schmutzig-braun.
Was hat Menschen früher dazu bewegt, die weiten Wege zu Wallfahrtsorten – etwa Santiago de Compostela, Lourdes, Rom, Jerusalem oder das bayerische Altötting – auf sich zu nehmen, frage ich
mich. Vergebung ist starkes Motiv, das Pilgerwege von Wanderwegen unterscheidet. Wahrscheinlich verbindet die historischen Pilger:innen und die modernen Wander:innen aber doch auch der ganz profane Drang, den eigenen Horizont zu erweitern und mal etwas anderes zu sehen als die eigene Heimat.
Spiritualität hat bekanntlich nicht nur Schnittmengen mit großen Weltreligionen. Es ist auch der unverstellte Blick auf die Natur, die Suche nach dem Sinn des eigenen Daseins und der Welt an sich. Spiro = ich atme. Und wo können wir besser atmen als in der Natur? Pilgern ist eine Form, sich mit dem Draußen zu beschäftigen, wandernd das Ich zu suchen und „die emotionale Übereinstimmung mit dem Weltganzen“, wie es Goethe in seinem Faust formulierte, zu finden. Deshalb bietet sich das Grüne Band als säkulare, irdische Pilgerroute an. Nirgends sonst in Deutschland hat man so viel Wildheit, Offenheit und Grenzgeschichte vor den Wanderstiefeln. Nirgends sonst kann man so gut nachvollziehen, was Naturreligion für Menschen bedeutet haben mag. Nirgends sonst kann man so lange ungestört wandern. Nur du und die Natur.

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Eine an die Natur gerichtete Entschuldigung
Meine Wallfahrt bleibt nass: Zuerst passiere ich die Brietzer Teiche – ehemalige Ziegelteiche und damit Relikte einer vergangenen Industriekultur – und laufe an einem Weg entlang, der zu beiden Seiten von Wasser gesäumt ist. Der bodenhohe Wasserspiegel mutet surreal an: Das Gefühl, man könne den festen Boden verlassen und ohne Höhenunterschied auf der Wasseroberfläche weiterlaufen, kenne ich nur aus Friesland oder Holland.
Auf offenem Feld sehe ich alte Erdgasförderanlagen und frage mich, ob das Grüne Band nicht auch eine an die Natur gerichtete Entschuldigung ist. Seit nunmehr drei Jahrzehnten erobert sich die Wildnis die ehemals intensiv bewirtschaftete Landschaft im Hinterland der innerdeutschen Grenze zurück. Vergib uns unsere Sünden?
Mit seinen 146 verschiedenen Lebensraumtypen, 17 Naturräumen und ca. 1.200 Tier- und Pflanzenarten, die auf der Roten Liste der gefährdeten Arten stehen, ist das Grüne Band Deutschland auf einer Länge von 1.400 Kilometern ein Hotspot der Biodiversität, eine regelrechte Naturwunderkammer und ein Wanderkorridor für Tiere und Pflanzen. Was einst als Eiserner Vorhang trennte, kann nun Menschen verbinden und so ein friedvolles Dasein zelebrieren, dass einem das Herz schwillt.
Im ehemaligen Salzwedeler Stadtforst formen Birken und Erlen einen dichten Urwald mit feuchtem Keller. Mangrovenartig stehen die Bäume in einer Landschaft, die mich an die Moore meiner friesischen Heimat erinnert. Im Gegensatz zu den meisten Pilger:innen der vergangenen Jahrhunderte bin ich nicht gläubig, aber die Kombination von kirchturmhohen Bäumen und dunklen Gewässern weckt in mir zwiespältige Assoziationen zu heidnischen und christlichen Kulthandlungen – halb Taufzeremonie, halb Moorleiche ist der Vibe. Es fröstelt mich etwas. Diese Doppeldeutigkeit des Waldes – schützend und furchterregend – hat man mir schon mit der Gute-Nacht-Geschichte eingetrichtert, überlege ich, und denke fortan an böse Wölfe, Brotkrumen und Lebkuchenhäuser.

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Yulian Ide und Amanda Hasenfusz.
Tiefes Mitgefühl für alles Lebendige
Endlose Weite. Sprachlose Stille. Durchatmen. Zu sich kommen. Wer als weltliche:r Pilger:in eine Wallfahrt ans Grüne Band der Altmark unternimmt, erlebt wahrscheinlich kein religiöses Wunder, dafür aber spirituell-humanistische Einsichten in die Sinn- und Wertfragen unserer Zeit, wenn nicht gar des Daseins an sich. Die Langsamkeit des Gangs, der Genuss der Ruhe und Weite, fängt nach wenigen Kilometern an zu wirken. Der Blick auf die Natur wird zum Blick auf sich selbst. Wenn man Glück hat, tief atmet… spiegelt sich dieser Blick zurück auf einen selbst und wird zu Güte, Gelassenheit, Demut, Freundlichkeit und einem tiefen Mitgefühl für alles Lebendige.

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Die Altmark im November ist schön, aber nass.
Die bösen Wölfe der jüngeren Vergangenheit begegnen mir auf der Zielgeraden meines Pilgerweges. In schnurgerader Monotonie marschiert der Lochplatten-Kolonnenweg voraus. Hier, wo das Flüsschen Jeetze ein L gewinnt und auf niedersächsischer Seite als Jeetzel weiter Richtung Norden plätschert, hat der Maschinenbauingenieur Hans-Friedrich Franck aus Meißen am 16. Januar 1973 sein Leben verloren. Ein zeitgenössischer Artikel der Elbe-Jeetzel- Zeitung, der auf einer Gedenktafel abgebildet ist, verrät, dass die Schüsse einer automatischen Selbstschussanlage ihn bei seinem Versuch, gegen 23 Uhr über die Grenze nach Westdeutschland zu fliehen, so schwer verletzt haben, dass er seinen Verletzungen am nächsten Morgen im Dannenberger Krankenhaus erlag. Er wurde nur 26 Jahre alt.
SM-70 tötete 140 Menschen
Hans-Friedrich Franck hat sein gelobtes Land, Westdeutschland, erreicht, aber seinen Fluchtversuch mit dem Leben bezahlt. An der Stelle, an der er vor etwas mehr als einem halben Jahrhundert den Grenzübertritt wagte, steht heute ein hölzernes Kreuz vor einer Wand aus engmaschigem, metallenem Grenzzaun. Das Martyrium des jungen DDR-Bürgers blieb noch etwa ein weiteres Jahrzehnt weitgehend folgenlos, obwohl der Einsatz von Selbstschussanlagen dem internationalen Ansehen des DDR-Regimes schadete. Erst 1984 wurde die letzte SM-70, wie die Splittermine im Behördenjargon hieß, abgebaut. Sie hat etwa 140 Menschen das Leben gekostet.

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Der Gedenkhain für Hans-Friedrich Frank am ehemaligen Grenzweg nach Blütlingen.
Während ich andächtig vor dem mannsgroßen Holzkreuz stehe, probiere ich auf meinem Handy zu googlen, was Hans-Friedrich Franck dazu gebracht hat, den riskanten Grenzübertritt bei Salzwedel zu wagen. „Er brauchte Geld“, schreibt die Sächsische Zeitung 2011 nach einem Blick in dessen Stasi-Akte. Der junge Meißner hatte drüben eine Immobilie geerbt, während er hüben in Schulden versank. Kurzum: Er hoffte auf ein schönes, möglichst langes und sorgenfreies Leben. Ein Wunsch, für den viele Menschen große Entfernungen und Strapazen auf sich nehmen würden. Dass heute keine Waffen mehr am Grünen Band knallen und stattdessen Flora und Fauna ungestört vor sich hinleben können, ist an sich ein Akt der Vergebung gegenüber den Menschen, die heute beiderseits der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze leben. Der Eiserne Vorhang ist nach 1990 eine Art Anti-Reliquie geworden: an der ehemals mit negativer Bedeutung aufgeladenen Linie in der Landschaft, die wir heute als Grünes Band kennen, können wir uns nun frei bewegen.
Amanda Hasenfusz wurde 1972 in Gardelegen geboren und verlebte eine glückliche Kindheit nahe Kloster Neuendorf am Rand der Colbitz-Letzlinger-Heide. Seit Mai 2016 betreibt sie im altmärkischen Dahrendorf am Grünen Band die Herberge am kleinen Weingarten Dahrendorf, seit Mai 2020 zudem das PR-Unternehmen Agentur am kleinen Weingarten Dahrendorf. Außerdem arbeitet sie als regionale Reisebuchautorin: 2022 erschien ihr Wanderführer „Wandern im Nüscht. Die schönsten Wanderungen durch die Altmark“ und 2023 der Reiseführer „Grünes Band entlang der Altmark. Erlebnisrouten zu Natur und Geschichte“ im Omnino Verlag.