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Von zwei Frauen, die auszogen, um in der Altmark zu leben

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Sachsen-Anhalt-Journal - „Biografie“ (Nr. 3, 2023)

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Themen

Alltagskulturen Dorfmitte & Soziokultur Gleichberechtigung & Inklusion Jung & Alt Kunst & Musik Multikulturelles Miteinander

Die duftende Natur und die Ruhe der Altmark versprechen eine gute Zeit. Genau dieses Versprechen fühlten auch zwei Frauen, die beide von Süden her in die Altmark zogen: Chrissi Nierle aus Bayern und Emel Kınav aus Kurdistan.

Sich den Themen der Zukunft mit allen Sinnen zu nähern, ist ein zentrales Prinzip der Utopienale, die im Herbst 2022 erstmals im Rahmen des Kunstfestivals Wagen & Winnen dezentral in der gesamten Altmark stattfand. Für die Hochstelzengruppe der Künstlerin Chrissi Nierle trifft das zu. Die Kinder sprechen das Publikum in Salzwedels öffentlichem Raum einerseits audio-visuell und haptisch an, andererseits erlernen sie selbst durch das Stelzenlaufen neue Fertigkeiten, erfahren Sicherheit und ein Gemeinschaftsgefühl.

Mieste Hotopp-Riecke (re.) und Chrissi Nierle

Auf Hochstelzen durch Europa

Auf ihrem Weg in die Altmark macht Chrissi Nierle einige Schlenker. Ihre Kindheit und Jugend verbringt sie größtenteils in München und läuft dort mit 13 Jahren erstmals auf Stelzen: „Ich war immer schon künstlerisch aktiv und habe lange mit der Künstlergruppe Instant zusammengearbeitet. Um die Jahrtausendwende habe ich in Brüssel erst eine Zirkus- und danach eine tanzpädagogische Ausbildung gemacht“, lässt die mittlerweile 48-Jährige ihre Biografie Revue passieren. Nach dem Bühnenbild- und Kostüm- Studium an der Akademie der bildenden Künste in München geht sie auf europaweite Straßentheatertourneen – schon damals mit ihrem Partner Stefan Kamlah, mit dem sie in Salzwedel das Künstlerduo Philemon und Baucis gründet. Ihm zuliebe zieht sie 2022 endgültig in die Altmark, wo sie sich sofort in die künstlerische Arbeit stürzt: Unter dem Dach des Salzwedeler Bürgermeisterhofs baut das Paar eine Hochstelzengruppe für Kinder auf. Unterdessen schneidert, choreografiert, entwirft, motiviert und netzwerkt Chrissi Nierle für ihr Projekt.

„Ich genieße das Landleben und den Raum, den die Altmark mir bietet, sehr“, schwärmt die Künstlerin. Den Leerstand vieler Gebäude empfindet sie gleichermaßen als Freiheit und kreative Aufgabe: „Ich bin sehr glücklich in meiner neuen Heimat und empfinde Dankbarkeit für all die Möglichkeiten, die ich in Salzwedel bekomme. Deswegen fühle ich auch eine Art Verpflichtung gegenüber der Stadt und der Stadtgesellschaft, etwas zurückzugeben. Mein Lebensmotto ist, etwas zu bewegen, etwa im öffentlichen Raum, in Hausprojekten wie dem Bürgermeisterhof und mit Kindern oder Geflüchteten, um positive Impulse für die Zukunft zu setzen“, begründet die Künstlerin ihr Engagement. Mittlerweile setzt Chrissi Nierle in Kooperation mit der Landesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung Sachsen-Anhalt e.V. bereits ihr viertes Hochstelzenprojekt für Kinder um.

Die Hochstelzengruppe von Chrissi Nierle

Flucht in das gerade wiedervereinigte Deutschland und Abschiebung

Das Ökodorf Sieben Linden ist eine sozial-ökologische Modellsiedlung, die 1997 auf dem Gebiet der altmärkischen Gemeinde Beetzendorf gegründet wurde, und liegt gut 18 Kilometer südlich der Kreisstadt Salzwedel. Seit sieben Jahren ist das Ökodorf der Lebensmittelpunkt der Kurdin Emel Kınav, deren Biografie sich bisher zwischen zwei Ländern und in drei Sprachen abspielte. Mit drei Jahren kam sie als ältestes Kind mit Mutter, Vater und zwei kleinen Geschwistern aus dem Bürgerkriegsland Türkei nach Deutschland. Das war im Herbst 1990. Der türkische Staat ging mit NATO-Waffen brutal gegen die kurdische PKK-Guerilla, aber auch die eigene kurdische Bevölkerung vor und vernichtete unzählige Dörfer. Emel Kınavs Familie führte ein Leben im Ausnahmezustand, umgeben von Gewalt, Mord und Vertreibung.

Deutschland, oder genauer gesagt: die zwei deutschen Staaten, befinden sich ebenfalls mitten in einem historischen Wanderungsgeschehen, das die Flüchtlingsunterkünfte und Erstaufnahmelager beiderseits der gerade erst gefallenen Mauer füllt: Geflüchtete DDR-Bürger:innen und zehntausende deutsche Spätaussiedler:innen aus Osteuropa leben in den Unterkünften. Kurdische Kriegsgeflüchtete wie Emel Kınav und ihre Familie sind nur eine Randnotiz der Geschichte in einem sich in der Wiedervereinigung befindlichen Deutschland. Sie werden in das brandenburgische Fürstenwalde verteilt und fühlen sich dort bald zuhause. Erst in der Asylunterkunft, später in den eigenen vier Wänden. Es entstehen Freundschaften, weitere Geschwister kommen zur Welt, Kindergarten, Schule, aber immer droht das Damoklesschwert der Abschiebung. Denn die Familie lebt über ein Jahrzehnt nur mit einer Duldung von Quartal zu Quartal. 2003 kommt der Schock: Die mittlerweile alleinerziehende Mutter, die nur kurdisch und deutsch spricht, wird früh am Morgen abgeholt und mit ihren fünf Kindern in die Türkei abgeschoben – ein Land, das die Kinder nicht kennen. Für Emel Kınav beginnt ein Albtraum aus Zwangsheirat, mehreren Fluchtversuchen und großer Einsamkeit. „Dass Emel heute hier ist, ist überhaupt nicht selbstverständlich“, erzählt Simone Britsch, Mitbewohnerin in Sieben Linden, im Ökodorf-Podcast: „Dreizehn Jahre lang steckte Emel in Kurdistan in einer Zwangsehe fest“, doch auch in dieser unglücklichen Lage habe Emel die Hoffnung nicht verloren und kämpfte um ihre Freiheit und die Freiheit ihrer beiden Kinder.

Ein Paradox und ihr unbedingter Freiheitswille helfen ihr aus dieser Situation: Sie spricht immer wieder deutsche Tourist:innen an, netzwerkt und schreibt Briefe nach Deutschland. Andererseits wird die Lage in der Gegend ihrer Heimatstadt Mardin immer gefährlicher. Die türkische Armee bekämpft die nach ihrer Auffassung kurdischen Terroristen, ganze Landstriche werden zu unzugänglichen Kriegsgebieten. „Um uns herum herrschte Krieg und wir lebten einfach in Furcht. Es war nie klar, wann es auch die Stadt
Mardin treffen würde. Der Islamische Staat war in Nordsyrien an der Macht, heimlich unterstützt von der Türkei“, erinnert sich Emel Kınav. Gerade diese unsichere Lage und jahrelange Überzeugungsarbeit bewegen ihren Mann dazu, sie endlich ziehen zu lassen. Mit Hilfe deutscher Freund:innen ergreift sie 2015 die Chance, um einen Antrag auf Bundesfreiwilligendienst zu stellen – im Ökodorf Sieben Linden.

Neuanfang bei „den Ökos“

Endlich befreit und angekommen, kommen der jungen Kurdin auch Zweifel an dem großen Schritt: „Habe ich für meine Freiheit den Kindern die Heimat genommen?“ Denn wie früher ihre Eltern in Fürstenwalde oder sie selbst in den dreizehn Jahren in Kurdistan, sind ihre Kinder nun fremd in der Altmark, sitzen zwischen den Stühlen zweier Kulturen. Ursprünglich hat sie Vorbehalte gegenüber „den Ökos“ und will nur ein Jahr im Ökodorf Sieben Linden verbringen. Doch dann entsteht Heimat. Während der mittlerweile
sieben Jahre in der Altmark bewegen sie auch Fragen nach ihren deutschen, türkischen und kurdischen Wurzeln – was ist Heimat? „Heimat ist da, wo ich so leben kann, wie es mir entspricht“, sagt Emel Kınav. Heimat ist für sie auch die deutsche Sprache, die Sprache ihrer Träume. Ihr „kleines Wunder“, wie sie es nennt, hat mehrere Kapitel: Der Erhalt der langersehnten Scheidungspapiere, der deutsche Führerschein, ihr Einzug in ein Strohballenlehmhaus. Dass sie heute jedoch erfolgreich im Gästeteam von Sieben Linden arbeitet, sich bei der Kinderbetreuung und im Bildungscoaching engagiert und berechtigte Hoffnungen auf eine baldige Einbürgerung hegt, ist kein kosmisches Wunder, sondern die Erfolgsgeschichte einer jungen Frau, die niemals aufgegeben hat. „Ich möchte künftig hier in Deutschland vor allem Frauen das Ankommen erleichtern und zeigen, dass kein Trauma für immer bleiben muss und dass Frauen ihr Leben selbst in die Hand nehmen können“. Emel Kınav steht stellvertretend für viele Menschen, die auf der Suche nach Freiheit, Sicherheit und Heimat sind und bereit sind, Chancen zu ergreifen. Dafür brauchen sie aber Unterstützung, Empowerment und Solidarität, sowie Rahmenbedingungen, die ihnen diese Chancen bieten. Die aktuellen Kürzungspläne der Bundesregierung für Freiwilligendienste träfen gerade jene, für die eine Neuorientierung in besonders schwierigen Phasen einen Gewinn bedeutet.

Chrissi Nierle meint dazu: „Ländliche Regionen wie die Altmark geben einem die Kraft, um sich mit Kreativität für Kultur und die Zivilgesellschaft einzusetzen. Die größten Herausforderungen für bürgerschaftliches Engagement sehe ich in dem vielerorts schlechten öffentlichen Nahverkehr, den instabilen Förderstrukturen und manchmal in uns selbst. Ich sehe immer wieder, dass das Hochstelzentheater eine Form des Empowerments für Kinder mit und ohne Fluchterfahrung sein kann und deswegen hoffe ich, dass wir es hier vor Ort etablieren können.“ Chancen und Risiken, Begeisterung und Resignation liegen oft nah beieinander. Chrissi Nierle und Emel Kınav werden weitermachen, positiv gestärkt durch ihre neue Heimat und ein starkes Netzwerk von Menschen, die sie willkommen heißen.

Die Landesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung Sachsen-Anhalt e.V., oder kurz .lkj) Sachsen-Anhalt, ist ein landesweit anerkannter Träger der Jugendhilfe in Sachsen-Anhalt und Dachverband für Vereine und Verbände der Kinder- und Jugendkulturarbeit in Sachsen-Anhalt. Seit fast 30 Jahren setzt sich die .lkj) für kulturelle Kinder- und Jugendbildung, kulturelle Freiwilligendienste im In- und Ausland, sowie Breitenkulturarbeit und Soziokultur ein. Höhepunkte im Veranstaltungskalender der .lkj) sind jährlich die Verleihung des Kinder- und Jugendpreises des Landes Sachsen-Anhalt, der Zukunftskongress Utopienale und die Zweiheimisch-Soiréen, wovon die nächste am 27. November stattfindet. Mehr Infos unter: www.lkj-lsa.de

Emel Kınav kam vor sieben Jahren ins Ökodorf Sieben Linden in der Gemeinde Beetzendorf