
LHBSA. Gefördert durch das Land Sachsen-Anhalt. Foto: J. Lipskoch
Artikel
Lebendig, aber gefährdet
Ergebisse einer explorativen Umfrage zum lebendigen Kulturerbe in Sachsen-Anhalt. Über 200 lebendige Kulturformen in Sachsen-Anhalt nannten Teilnehmende einer Online-Umfrage, die der Landesheimatbund gemeinsam mit der Volkskundlichen Kommission 2023 durchführte. Der Artikel stellt die Ergebnisse dieser Umfrage vor.

LHBSA. Gefördert durch das Land Sachsen-Anhalt. Foto: J. Lipskoch
Abb. 1: Das Lebendschach-Ensemble 2024 im Schachdorf Ströbeck.
— Die Reben auf dem Weinberg im Saale-Unstrut-Tal pflegen, im Spätsommer und Herbst lesen und schließlich nach Weinbereitung das edle Getränk verkosten und beim Weinfest genießen.
— Beim jährlichen Dorf- und Schachfest in Ströbeck in historischem Gewand sich als lebendiger Springer, Bauer oder Dame von Feld zu Feld dirigieren lassen (Abb. 1).
— Eine große Birke schlagen, am 30. April zum Dorfplatz bringen, mit Girlanden und Kränzen verzieren und dann als Maibaum mithilfe von Muskelkraft, Traktor, Gabelstapler oder sogar Kran im Zentrum für die anschließenden Festivitäten aufstellen.
Das sind Beispiele für Antworten, die Menschen in Sachsen-Anhalt geben, wenn sie nach Formen lebendigen Kulturerbes in ihrem Wohnort gefragt werden. Die Schachtradition im Halberstädter Ortsteil Ströbeck ist seit einigen Jahren mit sechs weiteren Formen aus Sachsen-Anhalt (Stand 2024) auf der bundesweiten Liste des immateriellen Kulturerbes verzeichnet.1 Die Flößerei ist aufgrund der Initiative von Flößer:innen aus Sachsen-Anhalt seit 2022 sogar auf der Repräsentativen Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit vertreten.2
Dass lebendiges Kulturerbe in Sachsen-Anhalt reich und vielfältig ist, zeigt eine Online-Umfrage, die der Landesheimatbund Sachsen-Anhalt e. V. (LHB) im Frühjahr 2023 zusammen mit dem Ministerium für Kultur des Landes Sachsen-Anhalt und der Volkskundlichen Kommission für Sachsen-Anhalt e. V. unter dem Titel „Lebendiges Kulturerbe in Sachsen-Anhalt – Stand, Wirkung, Chancen“ durchgeführt hat.3 Der Anlass ist das 20-jährige Jubiläum der UNESCO-Konvention 2023 zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes, sowie der zehn Jahre später erfolgte Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen, die sich damit der Förderung, Pflege und Erhaltung immateriellen Kulturerbes verpflichtet.4
Zum Konzept des immateriellen Kulturerbes und der UNESCO-Konvention von 2003
Kulturerbe lässt sich als ein ausgewählter Teil einer Kultur beschreiben, den eine Gesellschaft (bzw. Akteur:innen und Gruppen) für sich als wertvoll sowie sinn- und identitätsstiftend erklärt.5 Dies können Formen materieller Kultur wie Artefakte, Gebäude, architektonische Ensembles oder Kulturlandschaften sein; aber auch immaterielle Kulturformen wie Tanz, Theater und Musik, Erzählungen, Handwerkstechniken oder damit spezifisch verbundenes Wissen, das häufig mündlich oder durch unmittelbares Handeln überliefert wird. Historisch geht das Konzept „Kulturerbe“ auf die Herausbildung der Nationalstaatsidee und eines neuen Nationalbewusstseins seit dem 18. Jahrhundert zurück. In Frankreich wurden durch die Französische Revolution gefährdete Bau- und Kunstwerke des Adels und der Kirche als Erbe der neuen Republik erklärt, die es zu schützen gelte. Im deutschsprachigen Raum spricht etwa Johann Gottfried Herder (1744–1803) von einem eigenen „Volksgeist“, den er in seinen Sammlungen von „Volksliedern“ (1778) ausmacht. Auch sonst basiert das Konzept des immateriellen Kulturerbes auf älteren Ideen wie „Sitten und Bräuchen“, „Traditionen“, „Folklore“ oder „Volkskultur“, die im 19. Jahrhundert entstanden sind. Oft spiegelt die romantische Suche nach dem immateriellen Kulturerbe den Wunsch wider, Authentisches und Ursprüngliches auf dem Land und in den ‚einfachen‘ Bevölkerungsschichten wiederzuentdecken.6
Im völkerrechtlichen Kontext taucht der Begriff Kulturerbe – im Sinne der materiellen Kulturgüter der gesamten Menschheit – in der Haager Konvention von 1954 auf, die es in bewaffneten Konflikten unter Schutz stellt. Die 1972 verabschiedete UNESCO-Konvention für das Weltkultur- und Naturerbe wurde 2003 um das Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes erweitert.7 Damit verlagerte sich der Fokus weg von europäisch geprägten Denkmalschutzkonzepten hin zu einer stärkeren Betonung von immateriellen Aspekten kultureller Überlieferung, die den Vorstellungen von Kulturerbe außereuropäischer, indigener Kulturen entsprechen sollen.8
In der Konvention wird immaterielles Kulturerbe als Handlungen, Ausdrucksformen sowie Wissen und Fertigkeiten definiert, die die Akteur:innen als Teil ihres Kulturerbes ansehen, welches von Generation zu Generation weitergegeben wird und sich dynamisch weiterentwickelt.9 Dabei unterteilt die UNESCO-Konvention immaterielles Erbe in fünf Bereiche: (1) mündliche Traditionen und Ausdrucksformen wie Lieder, Sagen oder Märchen, (2) darstellende Künste (z. B. Theater und Tanz), (3) gesellschaftliches Leben in der Gemeinschaft (z. B. das Genossenschafts- oder Schützenwesen), (4) Wissen und Bräuche in Bezug auf Natur und das Universum (z. B. Wissen um Kultur- und Heilpflanzen, die Falknerei) und schließlich (5) traditionelle Handwerkstechniken (z. B. Korbflechten).
Die UNESCO-Definition von immateriellem Kulturerbe setzt auf einen weiten, prozessorientierten Kulturbegriff: Die besonderen Phänomene von Kultur – das Kulturerbe – sollen als lebendige, inklusive sowie sich kreativ weiterentwickelnde Traditionen erhalten werden.10 Im Sinne der UNESCO betont der moderne Kulturerbebegriff nun – wie auch in der Volkskunde bzw. Empirischen Kulturwissenschaft der letzten Jahrzehnte – Kultur als ein dynamisches und lebendiges Geschehen verschiedener Formen und Ausdrucksmöglichkeiten aufzufassen. Während sich die aktuelle Forschung insbesondere für Wandel, soziale Schichtung, Aneignung durch verschiedene Akteur:innen und Umdeutungen von Kulturformen interessiert, wird der Prozess der Kulturerbe-Werdung, etwa im Rahmen der UNESCO-Regularien, selbst zum Untersuchungsgegenstand. Die Critical Heritage Studies betrachten beispielsweise die Bedingungen und Folgen des Kulturerbe-Prozesses: Wie verändert sich eine Kulturform durch den Bewerbungsprozess für die UNESCO und welche neuen Formierungen bringt das Prädikat „immaterielles Kulturerbe“ mit sich? Inwiefern wirken sich eine erhöhte touristische Nutzung und ein gesteigertes kommerzielles Interesse auf die Kulturformen aus? Welche Instanzen entscheiden über den Status einer Kulturform als „immaterielles Kulturerbe“? Welches Erbe findet Berücksichtigung – und welches nicht? Damit werden stärker die politischen Kontexte, hierarchischen Implikationen und ideologischen Agenden in den Blick genommen.11
Die vorliegende Umfrage „Lebendiges Kulturerbe in Sachsen-Anhalt“ kann man hierbei sowohl als Ergebnis aus den vermehrten Aktivitäten zum immateriellen Kulturerbe durch die UNESCO-Konvention als auch als Motivation für einen genaueren Blick auf den Stand und die antizipierten Wirkungen und Chancen von immateriellem Kulturerbe in Sachsen-Anhalt auffassen.
Die Umfrage „Lebendiges Kulturerbe in Sachsen-Anhalt“
Die Definition für immaterielles Kulturerbe gemäß der UNESCO-Konvention von 2003 bildete die ideelle und theoretische Grundlage für den Fragebogen. Die fünf im Abkommen aufgeführten Kategorien – mündliche Traditionen, darstellende Künste, traditionelles gemeinschaftliches Leben, Bräuche und traditionelles Wissen in Bezug auf die Natur sowie Handwerkstechniken – sind bei der Entwicklung des Fragebogens berücksichtigt und um die Kategorie „Feste und Bräuche“ erweitert worden. Die Autor:innen verwendeten in der Umfrage jedoch den Begriff „lebendiges Kulturerbe“, um die aktive Praxis und die dynamische Vermittlung und Weiterentwicklung der Kulturformen hervorzuheben. Erst wenn es um Fragen zu den spezifischen kulturpolitischen Maßnahmen und Erwartungen geht, wird entsprechend dem UNESCO-Übereinkommen von „immateriellem Kulturerbe“ gesprochen.
Die Online-Umfrage wurde im März und April 2023 über die Ortsbürgermeister:innen Sachsen-Anhalts, den Newsletter und die Mitglieder des LHB sowie über eine Pressemitteilung der Staatskanzlei und des Ministeriums für Kultur verbreitet. 153 vollständig ausgefüllte Fragebögen erreichten in der Folge den LHB. Da zum Teil komplexe qualitative Informationen wie Beschreibungen der jeweiligen Kulturform abgefragt wurden und die Bearbeitungszeit ca. eine halbe Stunde beträgt, ist der Rücklauf der Umfrage positiv zu bewerten. Die 90 angegebenen Postleitzahlen verdeutlichen, dass Personen aus ganz Sachsen-Anhalt teilgenommen haben. Der südliche Landesteil ist tendenziell stärker vertreten als der Norden. Etwa ein Drittel der Teilnehmenden gibt an, in einem Verein Mitglied oder dessen Vorsitzende:r zu sein (20,9 Prozent Vereinsmitglieder und 12,4 Prozent Vereinsvorsitzende), ungefähr ein weiteres Drittel sind Ortsbürgermeister:innen (28,1 Prozent) sowie 17,6 Prozent Ortschronist:innen. Bei den Befragten handelt es sich folglich überwiegend um lokal engagierte Menschen.
Die Online-Umfrage befragt die Teilnehmer:innen zu Formen des lebendigen Kulturerbes vor Ort, deren Inhalt und Ausführung sowie Quellenmaterial. Die Verfasser:innen der Umfrage sammeln Hinweise zu verschwundenen Bräuchen und möchten von den Teilnehmenden wissen, wie sie die aktuelle Situation und Zukunft der jeweiligen lokalen Kulturform einschätzen, den Bekanntheitsgrad des UNESCO-Konzepts des immateriellen Kulturerbes vor Ort bewerten und welche Erwartungen sie an das Land Sachsen-Anhalt in Bezug auf eine Förderung des lebendigen Kulturerbes haben.

Ortrun Vödisch
Abb. 2: Die Befragten nennen über 200 Kulturformen in Sachsen-Anhalt – am häufigsten das Osterfeuer.
Lokale Ausdrucksformen des lebendigen Kulturerbes
Von den 153 Teilnehmenden wissen 73,9 Prozent (113 Personen) mindestens von einem lebendigen Kulturerbe in ihrem Ort. Die Befragten nennen in der Umfrage insgesamt über 200 Kulturformen.
Die Wortwolke (Abb. 2) illustriert die Vielfalt der Antworten, die von eher allgemeinen Begriffen wie „Bräuche“ oder „Ortsgeschichte“, den Trägergruppen oder Orten der Vermittlung – also den Heimat- und Sportvereinen oder Ausstellungen – bis hin zu sehr konkreten Kulturformen reichen. Häufig genannte Begriffe werden dabei größer dargestellt. So ist mit 21 Nennungen das „Osterfeuer“ die meistgenannte Kulturform (dies kann Folge des zum Zeitpunkt der Umfrage nahe gelegenen Ostertermins sein), danach folgen das „Schützenwesen“ (13 Nennungen) und verschiedene Pfingstbräuche wie die „Pfingstburschenschaften“ oder der „Hunnebrössel“ (insgesamt 10 Nennungen).

LHBSA. Gefördert durch das Land Sachsen-Anhalt. Foto: D. Friebel.
Abb. 3: Für Pfingsten 2024 wird der Maikerl in Quarnebeck (Altmarkkreis Salzwedel) von den Hunnebrösseln zurechtgemacht.
Die Nennungen zeigen die große Vielfalt des vorrangig vereinsgetragenen kulturellen Lebens in Sachsen-Anhalt: Es tauchen sehr viele Volksfeste auf – junge wie der „Kartoffeltag“ in Neulingen, der erst 2006 begründet wurde oder ältere wie das seit mehreren Jahrhunderten bestehende „Naumburger Hussiten-Kirschfest“. Die Hälfte der Nennungen fällt unter die Kategorie „Feste und Bräuche“. Viele Handwerke finden sich wie der Weinanbau, das Mühlhandwerk, Schmieden oder die Imkerei.
Verschiedene Nennungen knüpfen an landwirtschaftliche Traditionen wie das „Ringreiten zu Pferd“ an. Am christlichen Festkalender orientieren sich das Ostereiertrudeln, Pfingstbräuche, Weihnachtsmärkte oder Feste zu Heiligentagen. Im Bereich der mündlichen Traditionen werden etwa das Plattdeutsche bzw. Niederdeutsche oder die „Harzer Volksmusik“ genannt. Als Teil der besonders in der DDR geförderten Arbeiterkultur haben sich Schalmeienkapellen oder der „Internationale Kindertag“ am 1. Juni erhalten. Der vielfältige Blick auf Traditionen, Feste und Bräuche gewährt somit Hinweise auf die reiche Kulturgeschichte Sachsen-Anhalts.
Aufgaben und Zukunftsaussichten des lebendigen Kulturerbes
Als besonders wichtige Aufgaben des lebendigen Kulturerbes schätzen die Teilnehmenden die Bewahrung von Tradition, Wissen und Techniken, genauso aber auch das Gemeinschaftsgefühl und die Freude bei der Durchführung der jeweiligen kulturellen Praktik ein. Etwas weiter dahinter liegen Wissensvermittlung, Tourismusförderung und Naturschutz. Eher unwichtig seien religiöse, politische oder weltanschauliche Aufgaben des lebendigen Kulturerbes, geben die Befragten an (Abb. 4).

Abb. 4: Diese Aufgaben priorisieren die Teilnehmer:innen für das lebendige Kulturerbe. Die Angaben beziehen sich nur auf die je erstgenannte Kulturerbeform.
Bei der Frage nach konkreten Zukunftsaussichten für das lebendige Kulturerbe zeigt sich ein geteiltes Bild: Mehr als ein Drittel (40,4 Prozent) der genannten Kulturformen (N = 178, Gesamtsumme der jeweils einzeln angegebenen Kulturformen) schätzen die Teilnehmenden als gefährdet ein, mehr als ein Drittel (44,4 Prozent) als gleichbleibend relevant und bei lediglich 15,2 Prozent der Kulturerbeformen beobachten die Befragten ein steigendes Interesse in ihrem Ort (Abb. 5).
Bei der Eruierung von möglichen Gründen für diese wahrgenommene Gefährdung können die Teilnehmenden wieder eine Priorisierung aus verschiedenen Auswahloptionen vornehmen (insgesamt 624 Nennungen). Dabei sehen die Befragten das immaterielle Kulturerbe besonders durch den demografischen Wandel, d. h. das steigende Alter der Akteur:innen, sowie mangelnden Nachwuchs gefährdet (22 Prozent, 137 Nennungen). Finanzielle Sorgen (16,8 Prozent, 105 Nennungen) und bürokratische Hürden (13,3 Prozent, 83 Nennungen), wie Brandschutz oder GEMA-Gebühren, werden ebenfalls häufig genannt (Abb. 6). Viele Befragte stellen ein abnehmendes Interesse am Kulturerbe fest. In der Vereinnahmung durch politische oder alternativ-religiöse Gruppen sieht keine:r der Befragten eine Gefahr für das immaterielle Kulturerbe.

Abb. 5: So schätzen die Befragten die Zukunft des lebendigen Kulturerbe bei ihnen vor Ort ein.

Abb. 6: Besonders mangelnden Nachwuchs und das steigende Alter der Engagierten, bürokratische Hürden und finanzielle Sorgen sehen die Befragten als Herausforderungen für lebendiges Kulturerbe an.
Bekanntheitsgrad des immateriellen Kulturerbes
Der zweite Teil der Umfrage befasst sich mit den allgemeinen Einschätzungen und Erwartungen bezüglich des immateriellen Kulturerbes – hier nun auch die UNESCO-Bezeichnung. Darin geben 70,6 Prozent der Teilnehmenden (108 Personen) an, den Begriff immaterielles Kulturerbe bereits zu kennen. Dennoch haben nur 37,9 Prozent der Befragten überlegt, ob eine kulturelle Aktivität in ihrem Ort eigentlich zum immateriellen Kulturerbe gehört. Anlass dazu haben die Auseinandersetzung mit der Lokalgeschichte, lokale Kulturdenkmäler, historische Persönlichkeiten (z. B. der Salzwedeler Pädagoge und Archäologe Johann Friedrich Danneil), Feste oder Ausstellungen gegeben. Für andere Befragte ist das Thema Kulturerbe durch ihre Anstrengungen um die niederdeutsche Sprache, im Rahmen der Bewerbung für die Bundesliste des immateriellen Kulturerbes oder durch den Fragebogen selbst relevant geworden. Einige der Befragten nennen konkrete Beispiele, die sie als immaterielles Kulturerbe vor Ort ansehen, wie das Liedgut des Männerchores, die Rassegeflügelzucht, das Fähren, das Brotbacken, den Weinanbau, die Schützenbrüderschaft, das Blasorchester oder die Rolle der Bukettfrauen beim Schützenfest.
Zur Frage nach dem Wissensstand der lokalen Bevölkerung zum immateriellen Kulturerbe zeigt sich wiederum ein geteiltes Bild: 45,8 Prozent stimmen der Aussage zu, dass die Bevölkerung vor Ort ausreichend über das Thema immaterielles Kulturerbe informiert ist. 50,3 Prozent der Befragten widersprechen der Aussage. Als Gründe für den mangelnden Informationsstand werden allgemeines Desinteresse – vor allem bei jungen Menschen, Zugezogenen oder politisch Verantwortlichen –, eine andere Interessenslage bei Vereinen (z. B. eher Sport) sowie eine geringe Relevanz des immateriellen Kulturerbes für den Alltag angegeben. Eine weitere Ursache für ein Informationsdefizit sei den Befragten zufolge die geringe Aufmerksamkeit, die dem immateriellen Kulturerbe in den (sozialen) Medien zuteil wird. Zudem fehle es an Multiplikator:innen, der persönlichen Ansprache der Vereine und dem Austausch untereinander. Einzelne kritisieren das Konzept immaterielles Kulturerbe als zu theoretisch: Akteur:innen sei die Besonderheit eines Brauchs nicht bewusst.
In einer weiteren offenen Frage thematisiert die Umfrage mögliche Maßnahmen zur Steigerung des Bekanntheitsgrades des immateriellen oder lebendigen Kulturerbes. Zwei Drittel der Befragten machen explizite Vorschläge: eine stärkere Nutzung verschiedener Print- und Onlinemedien, Infomaterial für Zugezogene, Informationstafeln mit QR-Codes, die Beteiligung an Jubiläen, Festen und Vorträgen, ein gemeinsames Logo, einen Aktionstag für das immaterielle Kulturerbe oder eine Informationskampagne in zeitlicher Nähe zum Sachsen-Anhalt-Tag. Um jüngere Menschen für immaterielles Kulturerbe zu begeistern, schlagen Teilnehmende intergenerationale Veranstaltungen, Schulprojekte oder ein Schulfach „Heimatkunde“ vor. Einige wünschen sich mehr finanzielle Unterstützung, etwa für die Chronist:innentätigkeit, eine stärkere Zusammenarbeit mit den Ortschafts- und Stadtverwaltungen und eine bessere Vernetzung der Vereine untereinander. Ein Drittel der Befragten macht keine Vorschläge, um die Bekanntheit des Kulturerbes vor Ort zu steigern. Diese Gruppe sieht den derzeitigen Informationsstand als ausreichend an, findet andere Themen relevanter oder befürchtet eine Kommerzialisierung des Kulturerbes, die für den Ort mehr Nachteile als Vorteile mit sich bringen würde.
Erwartungen an das Land Sachsen-Anhalt
Die Vorschläge und Bedürfnisse spiegeln sich auch in den Erwartungen an das Land Sachsen-Anhalt wider, wozu sich rund zwei Drittel der 153 Teilnehmenden äußern. Sie nennen dabei vor allem folgende Punkte: Würdigung und Anerkennung des Ehrenamts und kultureller Aktivitäten, eine stärkere finanzielle Förderung und Unterstützung, etwa für laufenden Aktivitäten, Publikationsformate, Machbarkeitsstudien oder einen kostenlosen Zugang zu Bibliotheken und Archiven. Sie wünschen sich zudem eine weniger bürokratische Fördermittelbeantragung und eine weniger reglementierte Durchführung von Veranstaltungen. Viele Befragte geben an, mehr Entscheidungsfreiheit auf lokaler Ebene haben zu wollen. Sie machen auf die Relevanz der (kulturellen) Infrastrukturen im ländlichen Raum aufmerksam, die neben Festen, der Vereinsarbeit, dem Erhalt der örtlichen Schule bis zu mehr Radwegen und dem Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs reichen. Die Teilnehmenden erwarten von der öffentlichen Hand mehr Unterstützung bei der Öffentlichkeits- und Vermittlungsarbeit, der Archivierung und Dokumentation des Kulturerbes, Beratung zu Fördermitteln, zum Ehrenamt und Vereinsleben, sowie zu rechtlichen Fragen.
Unter denjenigen, die keine Erwartungen an das Land Sachsen-Anhalt formulieren, mischen sich skeptische, teils offen frustrierte Stimmen, wie z. B.: „[B]ei uns im Dorf [gibt es] nichts mehr zu retten.“ Die Jugend fehle oder es gebe Bedenken gegenüber äußeren Impulsen. So meint ein Teilnehmer: „[Das] kann nur von den Mitbürgern selbst getragen werden, von außen ist eine Vermittlung schwierig und nicht dauerhaft.“
Positive Effekte des lebendigen bzw. immateriellen Kulturerbes
Auf die Fragen nach den positiven Effekten, die Teilnehmende sich vom lebendigen bzw. immateriellen Kulturerbe für ihren Ort versprechen, antwortet die überwiegende Mehrheit von rund 70 Prozent. Zwei Stimmen sehen nur negative Effekte. Der Rest macht dazu keine Angaben. Besonders häufig werden – wie schon bei den Aufgaben des Kulturerbes – der Zusammenhalt und ein Wir-Gefühl genannt. Lebendiges Kulturerbe könne zugleich ein Alleinstellungsmerkmal mit Integrationspotenzial sein und steigere die Attraktivität des Ortes für Besucher:innen und Bewohner:innen gleichermaßen. Durch immaterielles Kulturerbe werden Traditionen bewahrt und Geschichte vermittelt. Es habe das Potenzial, die Identifikation der Menschen mit dem Ort oder der Region zu steigern und zu mehr Lebensqualität im Ort beizutragen.
Fazit
Die Umfrage des LHB „Lebendiges Kulturerbe in Sachsen-Anhalt – Stand, Wirkung, Chancen“ zeigt, dass Sachsen-Anhalt über ein vielfältiges und lebendiges Kulturerbe verfügt, welches gerade im ländlichen Raum zu mehr Lebensqualität beiträgt. Jedoch stuft über ein Drittel der Engagierten und Interessierten, die an der Studie teilnahmen, das lebendige Kulturerbe als gefährdet ein. Dazu tragen insbesondere der demografische Wandel, fehlende finanzielle Mittel und bürokratische Hürden bei. Die Teilnehmenden äußern dementsprechende Erwartungen an das Land Sachsen-Anhalt: eine stärkere Würdigung und Sichtbarkeit des immateriellen Kulturerbes, mehr niedrigschwellige, finanzielle Unterstützung und Förderung, mehr Öffentlichkeit und Vermittlung sowie den Erhalt und Ausbau kultureller Infrastrukturen im ländlichen Raum.
Ein erster Schritt für mehr Sichtbarkeit und Wertschätzung immaterieller Kulturerbeformen in Sachsen-Anhalt ist die im Jahr 2024 eingeführte landesweite Liste. Zusätzlich zu den sieben kulturellen Praktiken, die bereits zuvor im Bundesverzeichnis geführt wurden, stehen auf der Landesliste die Fertigung von Prägebriketts, das Gebrauchshundewesen und das philanthropische Leben und Lernen in der Tradition des Aufklärers Johann Bernhard Basedow in Dessau (Abb. 7).12
Die nicht-repräsentative Umfrage mit ihren 153 Teilnehmenden bietet mit ihrem explorativen Charakter eine Momentaufnahme der Bedeutung des immateriellen Kulturerbes in Sachsen-Anhalt – vielfältig und in die Zukunft gerichtet, teils aber auch gefährdet. Interessant wäre es folglich, wie sich das Bild des immateriellen Kulturerbes verändern würde, wenn die Umfrage auf weitere Gruppen wie z. B. jüngere Menschen oder migrantische Communities ausgeweitet werden würde. Schließlich liefert die Studie Hinweise zur Brauch- und Kulturgeschichte oder der regionalen Verteilung von Bräuchen, die sich vertiefen ließen.

LHBSA. Gefördert durch das Land Sachsen-Anhalt. Foto: J. Lipskoch
Abb. 7: Das Fertigen von Prägebriketts ist seit 2024 auf der Landesliste des Immateriellen Kulturerbes Sachsen-Anhalt, hier besondere Schmuckbriketts als Werbe- und Erinnerungsträger.
Ortrun Vödisch
studierte Kulturwissenschaft und ist zurzeit Referentin für Alltagskulturen beim Landesheimatbund Sachsen-Anhalt. ⇆ voedisch@lhbsa.de
Prof. Dr. Dr. Uwe Wolfradt
ist Ethnologe und Psychologe. Er ist Vizepräsident des Landesheimatbundes Sachsen-Anhalt und Vorsitzender der Volkskundlichen Kommission Sachsen-Anhalt e. V. ⇆ uwe.wolfradt@psych.uni-halle.de
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1)
Die als immaterielles Kulturerbe auf der Landes- und Bundesliste erfassten Formen finden sich online unter https://kultur.sachsen-anhalt.de/kultur-gestalten/traditions-und-heimatpflege/immaterielles-kulturerbe-in-sachsen-anhalt (06.06.2024).
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2)
Vgl. Timm Nikolaus Schulze: UNESCO erklärt Flößerei zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit, 01.12.2022, online: https://www.unesco.de/kultur-und-natur/immaterielles-kulturerbe/immaterielles-kulturerbe-weltweit/unesco-erklaert-0 (14.05.2024).
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3)
Konzipiert und entwickelt wurde der Fragebogen von Dr. Christian Marlow, John Palatini, Dr. Christine Schlott und Prof. Dr. Dr. Uwe Wolfradt sowie der Volkskundlichen Kommission für Sachsen-Anhalt e. V. Die statistische Auswertung erfolgte durch Henning Renken.
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4)
Vgl. UNESCO-Übereinkommen zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes. In: UNESCO. Deutsche UNESCO-Kommission, online: https://www.unesco.de/kultur-und-natur/immaterielles-kulturerbe/immaterielles-kulturerbe-weltweit/unesco-uebereinkommen (11.12.2023). Um den Aspekt der dynamischen Weiterentwicklung und Vermittlung zu betonen, wird auch immer wieder von ‚lebendigem‘ Kulturerbe gesprochen.
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5)
Vgl. Markus Tauschek: Tradition. In: Timo Heimerdinger, Ders. (Hg.): Kulturtheoretisch argumentieren. Ein Arbeitsbuch. Münster, New York 2020, S. 495–519.
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6)
Vgl. Helmut Groschwitz: Immaterielles Kulturerbe. In: Martin Sabrow, Achim Saupe (Hg.): Handbuch Historische Authentizität. 2. Aufl. Göttingen 2019, S. 225–234, hier: 227–229; Markus Tauschek: Kulturerbe. Eine Einleitung. Berlin 2013, S. 37–40.
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7)
Im englischen Originaltitel heißt es „Intangible Cultural Heritage“ – „intangible“ hat dabei eine offenere, vagere Bedeutung als das deutsche „immateriell“, da es sich auch als „nicht greifbar“ oder „unbestimmbar“ übersetzten lässt.
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8)
Vgl. Groschwitz: Immaterielles Kulturerbe, S. 229.
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9)
Vgl. UNESCO-Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes. Artikel 2 – Begriffsbestimmungen, 17.10.2003, online: https://www.unesco.de/sites/default/files/2023-03/%C3%9CEK_IKE_D_040313.pdf (11.12.2023).
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10)
Vgl. https://www.unesco.de/kultur-und-natur/immaterielles-kulturerbe/immaterielles-kulturerbe-weltweit/unesco-uebereinkommen (22.03.2024).
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11)
Vgl. Groschwitz: Immaterielles Kulturerbe, S. 231–233; Tauschek: Kulturerbe, S. 181–185.
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12)
Vgl. https://kultur.sachsen-anhalt.de/kultur-gestalten/traditions-und-heimatpflege/immaterielles-kulturerbe-in-sachsen-anhalt (11.05.2024).