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Stapelburg ist nicht Berlin

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Sachsen-Anhalt-Journal - „Biografie“ (Nr. 3, 2023)

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Themen

Erinnerungskultur Geschichte Grünes Band Landschaft, Natur & Umwelt

Dezentrale Biografien in der Erinnerungskultur am Grünen Band

Bilder vom Verlauf und Ende der deutschen Teilung sind in das kollektive Gedächtnis eingegangen. Trotz ihrer eindrücklichen Bildsprache repräsentieren die geteilten Straßenzüge und Häuserblocks in Berlin und die auf der Mauer tanzenden Menschen die Geschichte des Herbstes 1989 nicht umfassend. An der deutsch-deutschen Grenze im heutigen Sachsen-Anhalt gab es andere Erfahrungen, andere historische Momente, andere Biografien und einen anderen Umgang mit der deutschen Teilung.

„Der 11.11.1989 wird mir immer als ein ganz besonderer Tag in Erinnerung bleiben, der mich und meine Familie vom Ende der Welt in die Mitte Europas katapultierte.“ Für den Stapelburger Peter Röhling ist der 11. November das zentrale Datum. An diesem Tag jubelten die Bürger:innen des kleinen Ortes im nordwestlichen Harz über den ersten Übergang außerhalb Berlins nach Westen. Und Peter Röhling spielte dabei die zentrale Rolle. Er lebte in Stapelburg praktisch direkt an der Grenze. Am 11. November hatten sich mittags bereits einige Stapelburger: innen an der Grenze versammelt. Nach der Grenzöffnung in Berlin am 9. November hatte es Gerüchte gegeben, dass auch die Grenze in Stapelburg geöffnet werden solle. Nachmittags entschloss sich Röhling dann zu handeln. Der damals 24-Jährige und sein Freund Norbert Heindorf nahmen sich Werkzeug aus einem Trabant und demontierten kurzerhand eine Metallplatte der Grenzbefestigungen in Stapelburg. Kurz darauf durchquerten die beiden Männer als erste die Grenze.

Es sind bestimmte Bilder, die einem gemeinhin in den Sinn kommen, wenn es um die Friedliche Revolution geht: die Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche, Günter Schabowskis Gestammel bei der Pressekonferenz über die neuen Ausreisebestimmungen, dann die Menschen auf der Mauer, die Autokorsos und das Trommeln auf den Trabi- Dächern. Jedes Jahr am 9. November gehen diese Bilder erneut durch Fernsehen und Social Media. Im Gedenken an die Friedliche Revolution kann jedoch leicht übersehen werden, dass die Ereignisse im Herbst 1989 nicht einfach ein friedlicher Übergang waren. Zuerst einmal war die Friedliche Revolution vielerorts mit massiver Polizeigewalt verbunden. In Halle etwa kam es Anfang Oktober zu etlichen Verhaftungen und Übergriffen. Passant:innen wurden von der Volkspolizei geschlagen, abgeführt und in der Haftanstalt Roter Ochse oder der Schule der DDR-Transportpolizei in der Reideburger Straße interniert. Es gab also immer Orte, an denen es anders ablief, als an den heute als zentral erkannten Orten, und an denen keinesfalls klar war, was passieren würde.

Und, wie das Beispiel von Peter Röhling und Norbert Heindorf zeigt, sind viele historische Ereignisse eher das Ergebnis von Zufällen und spontanen Entschlüssen als langfristigen Entwicklungen. Und diese spontanen Entschlüsse ereignen sich an anderen Orten und Tagen, als dies in den Überblicksdarstellungen zur Geschichte oftmals thematisiert wird.

Der 9. November, der Tag des Mauerfalls in Berlin, ist ein Tag, der jedes Jahr deutschlandweit mit Gedenkveranstaltungen und Staatsakten begangen wird. Den 11. November kennt man hingegen höchstens als Start der Faschingssaison.

Für die Leute, die damals außerhalb Berlins an der deutsch-deutschen Grenze wohnten, sind andere Zeitpunkte und andere Bilder wichtig. Biografien wie die von Peter Röhling verweisen auf die Vielschichtigkeit von Geschichte und bilden einen Kontrapunkt zum offiziellen Gedenken. Ihre Erlebnisse erzählen andere Versionen, die nur zu leicht von offiziellen Anlässen übersehen werden. Nicht nur, dass bereits neun Jahre vor dem Bau der Berliner Mauer auf Geheiß des DDR-Ministerrates und auf Befehl der Sowjetunion begonnen wurde, die Grüne Grenze zu befestigen. In den meisten Grenzorten im heutigen Sachsen-Anhalt stand sie auch länger als bis zum 9. November. Für Peter Röhling war der Tag des Mauerfalls der 11. November, der Tag, an dem er ins Zentrum des Geschehens rückte. Erst am 18. November wurde die Grenze zwischen dem altmärkischen Böckwitz und dem niedersächsischen Zicherie geöffnet. Die Aller bei Oebisfelde konnte erst am 26. November wieder erreicht werden. Erst am ersten Weihnachtstag versammelten sich die Einwohner:innen des vier Kilometer nördlich von Stapelburg gelegenen Abbenrode, um für die Öffnung der Grenze zu demonstrieren. Günter Mittrach filmte das Ereignis mit seiner Kamera. Es sei ein historischer Moment gewesen, sagt der Abbenröder, als die Verantwortlichen auf Druck der Demonstrierenden schließlich einen Schlüssel holten und ein Tor an der Grenze aufschlossen. Günter Mittrach ging mit vielen anderen Menschen aus dem Ort über die Grenze. Er stieg mit seiner Kamera auf eine hölzerne Aussichtsplattform, die auf der Westseite errichtet worden war, um von Westen her über die Grenze sehen zu können. Später war er Gründungsmitglied des Heimat-, Kultur- und Museumsvereins Abbenrode, der die Geschichte des Ortes bis heute aufarbeitet. Seine Filmaufnahmen können heute in der Grenzwandler-App vor Ort angesehen werden (siehe Infokasten).

Grenzwandler-App

De Grenzwandler-App is en digitales Projekt de Agenturen XR Anywhere un de Rociante Film. Et is jedacht for de Lüe de son niemodsches Telefon hätt, mit dän man veele Sachen maaken kann. Disse App is umesüst. Dat nie’e dabie iß, dat man opp den Telefon veelet dulder sahen kann, wie et butten in Lebm iß. Dat Telefon vertellt dek, wo du lang lopen moßt un watt freuer war und wie et uht esain hat. Denn kohmt ok noch Lühe, de vertellt dek wat sei sülwest erlewet hätt, ahn de ehemalige Grenze inne DDR. Bet jetzt het se de Dörper Abbenroe, Hötenslewe, Marienborn, Jahrsau un Beendarp in dissen Programm drinne.

Stapelburg ist nicht Berlin

Geschichte ist abhängig vom Blickpunkt. Was wir sehen, hängt davon ab, von wo aus wir hinschauen. Die Bilder der geteilten Großstadt Berlin, in der die Mauer direkt durch Wohngebiete, Straßen, ja Häuserblocks schnitt, sind eindrückliche Zeugnisse der Brutalität des Grenzregimes der SED-Diktatur. Diese Bilder sind gleichsam zu Ikonen geworden, die für sich in Anspruch nehmen, die Geschichte der deutsch-deutschen Teilung und des Herbstes 1989 umfassend repräsentieren zu können. Doch ist, trotz ihrer eindrücklichen Bildsprache, ihre Erklärungskraft in der Realität begrenzt. Was jenseits der Häuserblocks Berlins an anderen Orten geschah, bleibt außen vor. Um diese Orte aber in den Blick zu bekommen, bedarf es Biografien und Äußerungen wie der Peter Röhlings oder Günter Mittrachs. Ohne die Biografien und Zeugnisse konkreter Menschen, die an ganz verschiedenen Orten disparate Erfahrungen mit der Grenze und der deutsch-deutschen Teilung machten, wäre der Blick auf ein Zentrum verengt, das aber für viele Menschen eben nicht das Zentrum ihrer eigenen Erfahrung ausmachte. Wittenberg ist nicht Paris, wie es die Chemnitzer Band Kraftklub unlängst gesungen
hat, und Stapelburg ist nicht Berlin.

Die Grenzanlagen in Hötensleben wurden bereits 1990 unter Denkmalschutz gestellt. Hier sind Panzersperren, ein Stück der Sichtschutzmauer und ein Beobachtungsturm mit Führungsstelle BT 4×4 zu sehen.

Grenzbefestigungsanlagen in Hötensleben werden unter Denkmalschutz gestellt

Ein zweites Datum, das in der Regel wenig Beachtung im Zusammenhang mit dem Ende der DDR fand und findet, ist der 12. Januar 1990. Während die Bilder der Presslufthämmer und Bagger, die Teile der Berliner Mauer abtragen, als Zeichen eines zusammenwachsenden Europas um die Welt gehen, geschieht in Hötensleben in der Börde etwas Bemerkenswertes. An diesem Tag wird ein Rest der ehemaligen Grenzbefestigungen unter Denkmalschutz gestellt – entgegen beträchtlichen Widerstands aus der Ortsbevölkerung. Achim Walther, der Autor zweier Bücher über die Grenze, ist eine treibende Kraft hinter dem Vorhaben und wird erster Vorsitzender des kurze Zeit später gegründeten Grenzdenkmalvereins. Viele Sachsen-Anhalter:innen wollen die Grenze nach dem Mauerfall nicht mehr sehen. In Hötensleben befindet sich der Signalzaun direkt hinter den Grundstücken der Anwohner: innen. Jahrzehntelang haben sie direkt an der Grenze gelebt, die in Hötensleben, wie auch in anderen grenznahen Orten wie Böckwitz oder Oebisfelde, mit einer Sichtschutzmauer ausgestattet, der Berliner Mauer ähnelt. Auch dieses Vorgehen vom 12. Januar 1990 ist ein zentraler erinnerungspolitischer Akt zur Geschichte der Grenzöffnung: Die Idee, einen materiellen Ort der Erinnerung an das, was vor der Öffnung der Grenze war und wie dieses Grenzregime konkret vor Ort funktionierte, bereitzustellen.

Geschichte passiert an den Rändern

Die Art, wie Geschichte erinnert wird, ist das Resultat von politischen Entscheidungen. Daher spricht man in Bezug auf die Erinnerungskultur einer Gesellschaft zumeist zutreffender von Erinnerungs- oder Geschichtspolitik. Welche Geschichten man wie erinnert oder nicht, hängt vom jeweiligen Kontext ab. Die Bewertung der politischen Entscheidungen des Herbstes 1989 und des Verhaltens der Menschen wird häufig am Beispiel Berlins vorgenommen. Doch Geschichte ist eben auch abhängig von konkreten Akteur:innen, die sich an ganz verschiedenen Orten zu politischen Entscheidungen auf unterschiedliche Weise verhalten haben; in dem Fall gab es eben sich versammelnde Menschen an den Grenzübergängen nicht nur in Berlin, sondern auch in Stapelburg, Böckwitz oder anderen Orten, aber eben zeitversetzt. Schabowski mag in seinem Gestotter eine bestimmte Absicht gehabt haben oder auch nicht. Seine Aussagen sind bisher vielfältig interpretiert worden und dies hatte wiederum bestimmte geschichtspolitische Praktiken zur Folge. Geschichte ist aber meist keine Bewegung vom Zentrum oder den großen Staatsakten aus, sondern sie passiert an den Rändern. Sie ist global. Und dies trifft doppelt zu auf die Geschichte einer Grenze und eines Grenzregimes. Es mag im vermeintlichen Zentrum des Geschehens so oder so abgelaufen sein. Es gibt immer Orte, an denen es anders ablief, und Akteur:innen, die es anders machten; deren Erfahrungen und Lebensgeschichten vor der Gefahr bewahren, durch einen verengten Blick ein bestimmtes Geschehen zu privilegieren, so ein abschließendes historisches Urteil zu fällen und die Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes als erledigt zu den Akten zu legen. Heute ist die ehemalige Grenze ein Naturschutzgebiet. 2019 trat das Gesetz zu dessen Ausweisung als Nationales Naturmonument in Kraft. Oftmals wird die Geschichte dieser Grenze als vergangen betrachtet, überholt von den Ereignissen des Herbstes 1989. Das Ende der DDR erscheint gleichbedeutend mit dem Ende ihrer Geschichte. Doch die Gewalt und Brutalität, mit der das Grenzregime in der kommunistischen Diktatur geführt wurde, kann nicht zu den Akten gelegt werden. Laut der nicht unumstrittenen Studie von Klaus Schroeder und Jochen Staadt über die Todesopfer des DDR-Grenzregimes gab es circa 200 Tote im Zusammenhang mit der Grenze. Menschen kamen bei Fluchtversuchen ums Leben. Teilweise waren es sehr junge Leute, etwa der 15-jährige Heiko Runge, der bei Sorge im Harz von Grenzsoldaten erschossen wurde, oder der 18-jährige Bernhard Simon, der nahe der Wirler Spitze in der nördlichen Altmark auf eine Mine trat. Und teilweise waren es Leute, die völlig zufällig zum Opfer wurden. Diese ganzen Biografien verweisen auf eine Geschichte des heutigen Naturschutzgebietes, die nicht einfach beendet oder überwunden werden kann. Schon kurz nach der Friedlichen Revolution wurden in mehreren Orten in Sachsen-Anhalt Vereine gegründet, dies es sich Aufgabe gemacht haben, diese von den offiziellen Narrativen lange Zeit vernachlässigten Erlebnisse und Geschichten zu sammeln und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Ihre Arbeit ist Teil einer dezentralen Erinnerungskultur, deren Erkenntnisse geschichtspolitisch hartgesottene Meinungen und Urteile auf ihre Gültigkeit befragen und die Komplexität von Geschichte illustrieren können.

In der Nähe von Sorge (Harz) sind Reste des Kolonnenwegs und ein Unterstand zu sehen.