Zum Hauptinhalt springen

Artikel

Ostdeutsch und selbstbewusst: Hip-Hop als Immaterielles Kulturerbe in Sachsen-Anhalt

Ausgabe

Sachsen-Anhalt-Journal - „Sound“ (Nr. 2, 2020)

Ausgabe kaufen

Themen

Fest & Tradition Kunst & Musik Sport & Freizeit

Seit gut vierzig Jahren prägt Hip-Hop im Osten Deutschlands weit mehr als nur die Musiklandschaft. Er steht für gelebte Identität, starke Gemeinschaft und kreative Selbstermächtigung. Ein Verein aus Dessau setzt sich deshalb dafür ein, diese Kulturform offiziell als Immaterielles Kulturerbe im Verzeichnis der Bundesrepublik anerkennen zu lassen.

Als 1985 der Film Beat Street Hip-Hop in die Kinosäle der DDR brachte, war das wie ein kleines Samenkorn auf fruchtbarem Boden. Die Begeisterung über die bis dato weitestgehend unbekannte Subkultur aus der New Yorker Bronx war gerade unter dem jungen Publikum groß. Da man diesen neuen aufregenden Sound nicht einfach importieren und konsumieren konnte, weil die Zugänge seinerzeit systembedingt beschränkt waren, erfand man ihn, die dazugehörigen Moves und die Sprache einfach neu. Relativ schnell entwickelte sich daraus eine kleine Szene, die von Beginn an solidarisch und oft familiär geprägt war – ein Geist, der bis heute in Workshops, Partys und Projekten weiterlebt.

Das Team der Initiative „Ostbronx“ beim Splash!-Festival 2025, mit Laura Ettlich (vorne rechts) und Joerg Schnurre (hinten rechts).

Hip-Hop in der DDR war deswegen nie nur eine Kopie. Die politischen Einschränkungen hinter der Mauer stärkten den kreativen Eigen- Sinn. Fußgängerzonen wurden zu Tanzbühnen, Fabrikgelände zu offenen Galerien. Kinderradios wurden zu Studiogeräten umgebaut. Das gemeinsame Ausprobieren schweißte zusammen. Was andernorts im Mainstream aufging, wuchs hier zu einer eigenständigen, offenen und lebendigen Community.

Nach der Wende brachen zwar viele Räume und Finanzierungsmöglichkeiten weg, gleichzeitig entstanden jedoch mit der neugewonnen Freiheit auch neue Formate und Netzwerke – etwa bei Festivals wie dem Splash!, das Label Dominance Records aus Dessau oder Breakdance-Wettbewerbe wie die Battle of the East seit 1997. Hip-Hop wurde zum Sprachrohr für Inte- gration, Selbstermächtigung und Teilhabe am kulturellen Leben.

2024 organisierte der NEWKID e.V. gemeinsam mit der Beratungsstelle Alltagskulturen des Landesheimatbundes Sachsen-Anhalt den Workshop OSTBRONX in Dessau-Roßlau. Unter dem Titel „40 Jahre Hip-Hop im Osten Deutschlands“ diskutierten Aktive, Zeitzeug:innen und Historiker:innen die Geschichte und Zukunft dieser Kultur – und ihre mögliche Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe. Dabei wurde nochmals deutlich: Ostdeutscher Hip-Hop hat seine eigene Geschichte.

Der Historiker Leonard Schmieding beschrieb die Szene der 1980er als Ergebnis von Aneignung, Improvisation und Widerstand. Der Film Beat Street, so Schmieding, wurde nicht als anti-westlicher Propagandafilm rezipiert – wie es die eigentliche Intention des Staatsapparates war – sondern zur Inspiration. Jugendliche wollten nun breaken, rappen und sprayen, so wie ihre Vorbilder aus der South Bronx. Kleidung wurde selbst genäht, Technik gebastelt, Räume erobert. Zwischen Reglementierung, staatlicher Förderung und Mangelwirtschaft fanden junge Menschen ihre eigenen Nischen und lebten mit viel Improvisationstalent und Kreativität ihre Leidenschaft. Hip-Hop wurde zu einer Art subkultureller Schule des Lebens.

Haben sich die Rahmenbedingungen seit den 1980ern rasant verändert, so sind doch regionale Prägungen nach wie vor spürbar – in den Netzwerken, in Texten, die z. B. Erfahrungen der Transformationsjahre der 1990er im Osten verarbeiten, oder in eigenen Sprachfärbungen. Für unterschiedliche Generationen bleibt Hip-Hop ein Mittel für Gemeinschaft, Identität und Selbstermächtigung. Nicht Konkurrenz, sondern Mitmachen zählt. Auch das war beim Workshop in Dessau immer wieder Thema.

Für Joerg Schnurre, Mitinitiator des Antrags bei NEWKID e. V., zählt mehr als nur der Titel Immaterielles Kulturerbe. Gemeinsam mit seiner Mitstreiterin Laura Ettlich werben die beiden seit über einem Jahr vielerorts für die Idee, dieser ostdeutschen Spielform der Hip-Hop- Kultur mehr Sichtbarkeit und Wertschätzung zu Teil werden zu lassen. Die dabei entstehende überregionale Vernetzung und den Austausch erleben sie als besonders wertvoll und inspirierend. Aus den neuen Kontakten entstehen Projekte und Ideen. Für die lokale Erinnerungslandschaft in Dessau-Roßlau hat der Verein schon einen ersten Erfolg erzielt: An der Museumskreuzung sollen bald breakende Ampelfiguren an die Geschichte der örtlichen Breakdance-Bewegung der 1980er erinnern. Auch setzt sich die Initiative dafür ein, in der Alten Brauerei Dessau einen Raum für Musik, Austausch und Erinnerung zu schaffen.

Das Vorbild für einen erfolgreichen Bewerbungsprozess ist Heidelberg, wo die dortige Hip-Hop-Szene 2023 ins Bundesverzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen wurde. Das zeigt, dass es möglich ist. Doch der Antrag aus Dessau will den Heidelberger nicht nur erweitern, sondern gerade auf die Spezifik der hiesigen Szene hinweisen.

Ein weiterer Termin, der Generationen zusammenbrachte und Hip-Hop sichtbar machte, war das 2. Oldschool Hip-Hop Camp am Frauensee bei Berlin. Vom 11. bis 13. Juli 2025 trafen sich dort ost-, west-, nord- und süddeutsche B-Girls und B-Boys (Tänzer:innen), DJs und MCs, Beatmakers, Graffiti-Artists. In der Nachbearbeitung des Treffens bot sich der Raum für ein kurzes Interview zwischen zwei ostdeutschen Oldschool Hip-Hop Heads und Artists: Mike „Magic Mayer“ Buchmayer-Zacke (Harzfein Studios Dessau) antwortet auf Fragen, die ihm von Steffen „Selecta Ras“ Sülzle (Prime Dominance, Parallel Universum Leipzig) gestellt wurden.

Steffen: Wie bist du zum Hip-Hop gekommen – und warum gerade DJing?
Mike: Mein Einstieg war Breakdance. Durch diese Eindrücke wurden praktisch alle Grundsteine gelegt.

Was macht für dich den typischen Hip-Hop-Sound aus?
Heute denke ich, dass Hip-Hop überall steckt – oder besser: alles, was mich inspirieren kann. Der typische Sound? Im Wort selbst steckt für mich alles, was es braucht: HIP-HOP.

So wie du das mit dezenter Pause zwischen den beiden Worten sagst, muss ich unmittelbar an den Song „Hip Hop“ von Dead Prez denken.
Den hatte ich dabei auch im Sinn. Der Song ist für mich ein gutes Beispiel – roh, rhythmusbetont und einfach strukturiert: Drums, Bass-Synth und Rap. Die Reduktion lenkt die Aufmerksamkeit auf den Text. Die MCs vermitteln die Botschaft, dass Hip-Hop nicht nur Musik ist, sondern auch Lifestyle, Widerstand und Identität.

Gibt es bestimmte Klänge oder Geräte, die für dich unverzichtbar sind?
Die Roland TR-808 Drum Machine. Den Roland Vocoder SVC-350 würde ich auch nennen, aber der ist spezieller und hat den Sprung in die Neuzeit nicht so gut geschafft wie die 808.

Wie verbinden sich globale Hip-Hop-Einflüsse mit deinem Leben in Dessau oder Sachsen- Anhalt? Spielt deine Heimat eine Rolle in deinem Sound?
Ich lebe und arbeite hauptsächlich rund um Dessau und produziere hier mit Freunden Musik. Die lokale Verwurzelung erkennt man – wenn überhaupt – wohl am ehesten an der Sprache. In Songs wie „Phase der Frequenzen“ oder „Maschinen bereit“ wurde der genannte Roland Vocoder genutzt, um die deutschsprachigen Vocals im Stil einer Roboterstimme zu verfremden. Trotz dieser Soundmodulation bleibt der gesprochene leichte Dialekt des Artists aus Dessau-Kleinkühnau noch erkennbar. Ansonsten höre ich Dessau in meiner Musik nicht.

Wie haben sich die technischen Möglichkeiten für dich verändert – vom klassischen Vinyl bis zu digitalen Tools?
Das bringt viele Vorteile mit sich, deren Potenzial wir noch entdecken müssen. Für DJs eröffnen sich völlig neue Ebenen. Aber es gibt auch Schattenseiten: In von KI-Tools produzierter Musik fehlen mir oft die menschlichen Aspekte, Emotionen und Wärme. Außerdem sind Urheberrechtsfragen noch ungeklärt. Gleichzeitig sehe ich auch das Urheberrecht kritisch, weil es die Nutzung von Werken einschränkt. Ein Album wie „Three Feet High and Rising“ von De La Soul, das von unzähligen Samples – also eine Art Musikzitat – lebt, wäre heute schwer umzusetzen.

Alte Boomboxen oder neue Technik – was macht für dich den Reiz aus? Geht es um Nostalgie oder um den Klang?
Es geht um den Klang. Man liebt das, was man zum ersten Mal hört – egal auf welchem Medium. Es könnte auch ein Toilettenradio gewesen sein. Wenn man denselben Song später in besserer Qualität hört, kann er einen neu abholen. Aber der erste Flash bleibt im ersten Hören verborgen.

Welche Künstler oder Musikstile haben dich inspiriert – internationale Vorbilder oder auch regionale Szenen?
Kraftwerk sehe ich als Urväter des Electro – und damit auch eng mit Hip-Hop verbunden. Viel Funk hat als Grundlage für Hip-Hop-Hits gedient. Es gibt einfach zu viele inspirierende Vorbilder. Hip-Hop lebt auch von Live-Erlebnissen.

Gibt es einen besonderen Moment, an den du dich erinnerst, wo Klang und Stimmung perfekt zusammenpassten?
Ja, am 11.11.1983 in der Diskothek in Elsnigk. Der Raum war beim Betreten in starkes Stroboskoplicht gehüllt, was meine Begeisterung für die neuen Eindrücke noch steigerte.

Wenn du an die Zukunft denkst: Welche Entwicklungen im Hip-Hop-Sound findest du spannend?
Spannend ist für mich eigentlich alles!