
Haus der Geschichte Lutherstadt Wittenberg und Wolfgang Müller
Umfrage
Nun sag, wie hältst du’s mit der deutschen Einheit?
Seitdem die Berliner Mauer vor 35 Jahren fiel, strengt sich das ganze Land an, die „Mauer in den Köpfen“ einzureißen. Das Sachsen-Anhalt- Journal hat im Vereinsnetzwerk des Landesheimatbundes nachgefragt, wie das Miteinander von Ost- und Westdeutschen in den Vereinen klappt. Die Umfrage zeigt: Die Mauer in den Köpfen ist höchstens ein Gartenzaun.
Die auf dem Titelbild abgebildeten Objekte sind Design-, Haushalts- und Alltagsgegenstände aus der DDR-Zeit. Der Landesheimatbund dankt Christel Panzig vom Haus der Geschichte in Lutherstadt Wittenberg und Wolfgang Müller, der ein privates DDR-Museum in Salzwedel betreibt, für den Zugang zu ihren Sammlungen.
Auch 35 Jahre nach dem Fall der Mauer ist das Miteinander – oder eher Nebeneinander? – von Ost und West noch immer die Gretchenfrage der öffentlichen Debatte im wiedervereinigten Deutschland. Insbesondere im Herbst, wenn sich die Jubiläen und Gedenktage häufen, schwärmen die Reporter:innen aus ihren westdeutschen Zeitungsredaktionen aus, um kurzerhand die Seele der Ostdeutschen zu ergründen und allerlei menschelnde Einheitsreportagen aus den ostdeutschen Plattenbauvierteln, Kleingartenkolonien und Jugendclubs zu produzieren – in diesem Jahr noch verstärkt durch die drei bevorstehenden Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen. Dabei ist die Prämisse – nämlich, dass sich die 83 Millionen Einwohner:innen Deutschlands eindeutig in eine der zwei Gruppen einsortieren ließen – zunehmend wackeliger. Heutzutage haben Millionen Menschen in Deutschland Biografien, die sich beiderseits der ehemaligen innerdeutschen Grenze abgespielt haben, etwa weil sie für Ausbildung, Studium oder Beruf umgezogen sind oder sich in eine Person aus dem anderen Landesteil verliebt und mit ihr eine Familie gegründet haben. Für Menschen, die aus dem Ausland zugewandert sind, hat es möglicherweise auch keine großartig identitätsstiftenden Auswirkungen, ob sie nun in Berlin-Wilmersdorf oder Berlin-Weißensee, in Düsseldorf oder Leipzig wohnen. Zudem ist ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung nach 1989 geboren und kennt die deutsche Teilung nur noch aus zweiter Hand, etwa durch die Eltern oder die Schule.
Dass das Zusammenleben der Menschen komplexer ist, als die Begriffe Osten und Westen vermuten lassen, zeigt sich auch in den Ergebnissen der Umfrage zum Miteinander von Ost und West in den Vereinen in Sachsen- Anhalt, die der Landesheimat-bund kürzlich durchgeführt hat. Mit insgesamt 40 Teilnahmen ist sie zwar weit von einer statistischen Relevanz entfernt, die allgemeingültige Aussagen zulassen würde. Weil außerdem keinerlei persönliche Informationen zu den Umfrageteilnehmer:innen abgefragt wurden, lässt sich auch keine Aussage darüber treffen, welchen Verzerrungen die Ergebnisse unterliegen – abgesehen davon, dass ausschließlich Menschen aus dem Netzwerk des Landesheimatbundes von der Umfrage erfahren haben. Trotzdem gewähren die Antworten einen interessanten Einblick in die Zusammenarbeit von ost- und westdeutsch sozialisierten Menschen in den Sachsen- Anhalter Vereinen. Die ehrenamtliche Arbeit in einem Verein ist ja insofern schon besonders, als dass sie mehr als viele andere Bereiche des Lebens auf Freiwilligkeit beruht: Engagierte in Heimat- und Kulturvereinen entscheiden sich mit ihrer Vereinsmitgliedschaft ganz bewusst dafür, andere Perspektiven und Ansichten – auch solche, die unangenehm sein können, etwa weil sie von der eigenen Weltanschauung abweichen – in ihrem Leben zuzulassen und sich, etwa in Vereinssitzungen, mit ihnen auseinanderzusetzen.
Die Befragten geben an, dass im Durchschnitt jedes fünfte Vereinsmitglied eine (zumindest teilweise) westdeutsche Sozialisierung hat. Die Zahl ist wahrscheinlich zu hoch, da viele Vereine ohne westdeutsche Vereinsmitglieder von vornherein auf eine Teilnahme an der Umfrage verzichtet haben. Interessant ist, dass die Befragten zwar schon Mentalitätsunterschiede bei Ost- und Westdeutschen feststellen – diese aber offenbar das Vereinsleben nicht negativ beeinflussen. Die Zusammenarbeit von Ost- und Westdeutschen in ihren Vereinen bewerten die Befragten eindeutig als harmonisch. Im Gegensatz zu den Politik-Talkshows, in denen von der eher größer werdenden Polarisierung und der recht robusten „Mauer in den Kopfen“ die Rede ist, zeigen sich die Befragten in den Sachsen-Anhalter Vereinen eher optimistisch, wie sich die Beziehung zwischen Ost- und Westdeutschen entwickelt. Die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen nehmen ihnen zufolge eher etwas ab. Es zeigt sich auch, dass die Frage, ob jemand ost- oder westdeutsch sozialisiert ist, für die Umfrageteilnehmer:innen keine besonders große Relevanz hat. Für die Befragten birgt ein westdeutsches Vereinsmitglied, das ebenfalls ländlich sozialisiert und ähnlich alt ist, also weniger Konfliktpotenzial als ein ostdeutsches Vereinsmitglied, das aus einer weit entfernten Großstadt zugezogen ist und einer anderen Generation angehört.
Natürlich können diese Ergebnisse aber schlichtweg auch dadurch beeinflusst worden sein, dass vorrangig Menschen an der Umfrage teilgenommen haben, die sich sowieso schon in irgendeiner Form von der Thematik angesprochen gefühlt haben und mit diesem Erfahrungshorizont gelassener auf die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland blicken. Trotzdem zeugen auch die persönlichen Erfahrungen, die im Rahmen der Umfrage und per E-Mail geteilt wurden, von einem großen Reflexionsvermögen der Befragten auf beiden Seiten: Häufig wird angemerkt, dass ein aufrichtiges Interesse an der Andersartigkeit der Mitmenschen und eine offene und respektvolle Kommunikation essentiell sind, um nicht nur den Hausfrieden im Verein zu wahren, sondern darüber hinaus auch Ziele zu erreichen, die man ausschließlich mit Menschen aus der eigenen Bubble möglicherweise nicht erreicht hätte. Die Befragten loben beide Gruppen für ihre Stärken. Westdeutsche bringen ihnen zufolge häufig einen großen Gestaltungswillen und ein selbstsicheres Auftreten, Ostdeutsche einen ausgeprägten Gemeinschaftssinn und die Fähigkeit, sich leicht an neue Umstände anzupassen, in die Vereinsarbeit ein. Unterschiedliche Perspektiven im Verein empfinden viele eher als Bereicherung, denn als Belastung. Wiederholte Kritik gibt es allerdings gegenüber Westdeutschen, die sich nicht die Mühe machen, sich mit den tiefgreifend anderen Lebensrealitäten in Ostdeutschland vor und nach der Wende auseinanderzusetzen und vor diesem Hintergrund die Lebensleistung der Ostdeutschen anzuerkennen.
„Meine Mutter aus Nordrhein-Westphalen ist besorgt: ‚Wie, ihr geht da in die Sauna? … Und da sind wirklich alle nackt?’“
Solveig Feldmeier, Soziokulturelles Zentrum ATHINA Harzgerode e.V.
„Anlässlich der Kommunalwahlen haben wir in Harzgerode eine Kandidatenbefragung organisiert, zu der alle Bürgerinnen und Bürger eingeladen waren. Sowohl die Kandidierenden als auch die Gäste im Publikum waren mehrheitlich ostdeutsch sozialisiert. Beim Thema Krieg und Frieden rutschte einem altgedienten Stadtrat heraus, dass er dem Grünen-Politiker Anton Hofreiter die Haare schneiden und ihn zur Front schicken würde. Die anwesenden Wessis empörten sich ob dieser Ausdrucksweise. Sie haben natürlich nicht in der NVA gedient, wo allen Soldaten die Haare geschnitten wurden. Außerdem war es im Behördenjargon der DDR viel üblicher, militärische Begrifflichkeiten in allen möglichen Lebensbereichen zu verwenden – eine Marotte, über die sich Bürgerinnen und Bürger der DDR gern und oft lustig gemacht haben. Die Assoziation der Wessis war: Hitlerkrieg – Ostfront – Nazis. Wir haben das Missverständnis dann dank der Moderation zweier junger Frauen, für die die Sozialisation Ost/West keine Rolle mehr spielt, aber glücklicherweise sachlich klären können. Und der wiedergewählte Stadtrat versprach, Anton Hofreiter künftig in der Öffentlichkeit mehr Respekt zu zollen.“
Charlotte Buchholz, Autorin:
„Drei Paare sitzen in einer Gartenkneipe. Die Getränke werden serviert. Dunkles Bier, rote Fassbrause, schlichtes Helles. Sechs Gläser stehen als Grüppchen in der Mitte des Tisches. Da spricht es einer aus: Das ist ja schwarz-rot-gold! Einen Moment staunende Stille, dann Gelächter. Es ist ein 3. Oktober in den neunziger Jahren. Zwei Paare aus Niedersachsen, eins aus Sachsen-Anhalt – mein Ehemann und ich – treffen sich für ein gemeinsames Wochenende. Als das Gelächter verebbt, ist die Fantasie angeknipst. Aus dem spontanen Ausruf wächst eine Idee: Wie wäre es, wenn wir uns von nun an jedes Jahr am Tag der Einheit verabreden? In den darauffolgenden Jahren zeigen wir einander unsere Städte in Ost und West und Sehenswürdigkeiten, die wir ohne diese Treffen vielleicht nicht aufgesucht hätten. Auf jeden Fall aber sehen wir die Orte in einem neuen Licht: Dresden, Leipzig, Münster und Hamburg gehören zum Programm, aber auch Kleinodien wie Ebergötzen mit dem Wilhelm-Busch-Museum und Gera mit dem Otto-Dix-Haus und der restaurierten Villa Schulenburg. Doch vor allem sprechen wir während dieser Zusammenkünfte miteinander. Über den Alltag, Lebensumstände, Geschichten, Erfahrungen, Politik. Je tiefer wir die Themen ausloten, desto geringer wird die Distanz – trotz durchaus verschiedener Meinungen. Ist das Zusammenwachsen also einfach? Ja und nein. Ja, weil wir hier wie dort unseren Alltag mit Arbeit, Familie, Verpflichtungen gut bewältigen und sich das eine oder andere Interesse deckt. Das Nein steht für die Art und Weise des Bewältigens. Jahrzehnte zweier Ordnungen in den beiden deutschen Ländern haben Spuren hinterlassen. Wie kann es anders sein? Diese Unterschiede machen Begegnungen nicht unbedingt immer einfach. Auch nach mehr als dreißig Jahren gilt es immer noch auszuhalten, was anders ist – mit gegenseitigem Respekt, Offenheit, Neugier. Christa Wolf hat es meiner Ansicht nach auf den Punkt gebracht, als sie sagte: „Wir müssen uns unsere Geschichten erzählen.“ Dieser vermeintlich banale Satz steht dafür, wie wir einander sensibel und vorurteilsfrei begegnen können, über Selbstverständliches, über Alltägliches hinaus. Dieser Satz begleitet mich, hat meine Haltung geprägt, auch für das Schreiben.“
Silvio Jahn, Ortschronist in Neuenhofe:
„Mein Heimatdorf Neuenhofe liegt zwar nicht unmittelbar im ehemaligen Grenzgebiet und zugezogene Westdeutsche gibt auch es nicht viele, wenn es sie überhaupt gibt. Kontakt zwischen Neuenhofer:innen und Westdeutschen gab es aber trotzdem, allerdings in Westdeutschland. Es ist nämlich so, dass junge Leute aus dem Dorf häufig nach ihrer Ausbildung in die alten Bundesländer ziehen und mit ihrem Wegzug dem Neuenhofer Vereinsleben Nachwuchssorgen bereiten. Für meine erste Stelle ging ich 2006 nach Goslar in Niedersachsen und verdiente ein für mein Empfinden ordentliches Gehalt, das für alle Annehmlichkeiten reichte, und vor allem wesentlich höher war, als Gehälter im Osten. Ich war zufrieden – auch wenn ich später herausfand, dass eine westdeutsche Gesellin ein höheres Einstiegsgehalt als ich erhielt. Ich hätte womöglich auch höher pokern können. Im Arbeitsalltag fiel mir auf, dass sich die westdeutschen Kolleg:innen gerne mit Endlosdiskussionen aufhielten, die keine Ergebnisse hervorbrachten. Ich widersprach hingegen selten, sondern packte gleich an und erledigte meine Aufgaben ohne viel Gerede. Ich frage mich manchmal, ob das ein Resultat meiner DDRErziehung ist. Ressentiments gegenüber Ostdeutschen habe ich bei meinen westdeutschen Kolleg:innen nie festgestellt. Natürlich gab es immer wieder Witze über Ossis, die ich aber nie als verletzend empfunden habe. Im Gegenteil: Manchmal antwortete ich auf solche Späße in sächsischem Dialekt – meine westdeutschen Kolleg:innen liebten das. Im Arbeitsalltag gab es keine Reibereien zwischen Westund Ostdeutschen. Ich erinnere mich allerdings daran, dass es ausschließlich Kolleg:innen aus den neuen Bundesländern waren, die außerhalb der Arbeit den Kontakt zu mir suchten – beispielsweise, um nach Feierabend gemeinsam in eine Kneipe zu gehen. Als ich Jahre später in demselben Unternehmen nach Wernigerode wechselte, fiel ich in ein tiefes Loch. Das Arbeitsklima in dem ostdeutschen Kollegium war geprägt von einer grundlegenden Unzufriedenheit, Missgunst und Neid. Ehrlich gesagt habe ich nie so richtig verstanden, warum das so war. Sicherlich, die Löhne waren geringer, aber das Leben im Osten war auch günstiger. Ansonsten genossen wir dieselben Annehmlichkeiten wie unsere Kolleg:innen im Westen: Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld und Sonderzahlungen. Trotz dieser gegensätzlichen Erfahrungen glaube ich nicht an pauschale Zuschreibungen wie Besser-Wessi oder Jammer-Ossi. Die Erfahrungsschätze der beiden Gruppen sind unterschiedlich. Beiden Gruppen fällt es schwer, die Attitüden der jeweils anderen vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Erfahrungen zu verstehen. Stattdessen bemüht man ewige Klischees, die nicht die Wahrheit abbilden und sowieso keine Rolle mehr spielen.“
Christina May, Landesheimatbund Sachsen-Anhalt e.V.:
„Mittags ging ich regelmäßig in der Betriebskantine essen. Die Mahlzeiten waren normalerweise keine kulinarische Köstlichkeiten, aber die Kantine war immer ein guter Ort, um sich mit den Kolleg: innen auszutauschen. Unser IT-Experte war besonders beglückt, wenn ein Gericht auf der Speisekarte stand: das Jägerschnitzel. Und zwar, weil er so gerne den fassungslosen Ausdruck in den Gesichtern der westdeutschen Kolleg:innen beobachtete, wenn ihnen anstatt eines Schnitzels eine Jagdwurst mit Soße über die Theke gereicht wurde. Ich, selbst westdeutsch sozialisiert, freute mich mit meinem schadenfrohen Kollegen und bestellte lieber vegetarisch.“
Dietmar Eißner, Freundeskreis Literatur e.V.:
„Wir haben (leider?) keine rein westdeutsch sozialisierten Mitglieder in unserem Verein, so dass uns die Thematik zurzeit nicht betrifft. Nur grob anreißen möchte ich aber eine Erfahrung in der Begegnung von Ost- und Westdeutschen hier in Merseburg. Wir kümmern uns als Förderverein um die Merseburger Zaubersprüche und ihre geplante Anerkennung als UNESCO-Weltdokumentenerbe. In dem Zusammenhang merken wir immer wieder, dass die Kenntnis dieses einzigartigen Kulturgutes als einem Urdokument der deutschen Schriftsprache in Ost und West ganz unterschiedlich ausgeprägt ist: Im Westen waren die Merseburger Zaubersprüche wahrscheinlich ein Grundbaustein des Literaturunterrichtes und des Germanistikstudiums, was im Osten aber nur vereinzelt der Fall war.“
Amanda Hasenfusz, AltmarkMacher e.V.:
„Das Ost-West-Thema ist für mich und meinen Partner gerade weit weg, denn wir befinden uns auf einem mehrmonatigen Aufenthalt in Schottland. Immer dann, wenn wir gefragt werden, aus welcher Region in Deutschland wir kommen, erklären wir, dass wir am Grünen Band wohnen, ‚You know, the former inner German border…? The Iron Curtain, now Green Belt…‘. Gleich danach sagen wir, dass einer von uns aus dem Westen stammt und eine von uns im Osten sozialisiert wurde. Das ruft manchmal Aha-Effekte und weitere Gespräche hervor. Oft genug gibt es aber auch keine Reaktion, denn Engländer:innen und Schott:innen haben die deutsch-deutsche Teilung natürlich nicht so auf Schirm wie wir Deutschen. Das finden wir nicht schlimm, im Gegenteil. Wir sollten uns mit unserer Geschichte vielleicht etwas weniger wichtig nehmen und stattdessen anfangen, unsere gemeinsame gesamtdeutsche Identität mit Leben zu füllen. Ost und West könnten jetzt endlich mal zusammenwachsen, statt weiter darüber zu spekulieren, wer besser ist oder zu analysieren, was nach 1990 alles falsch gemacht wurde. Jede:r kann und sollte von der anderen Seite lernen, Vorurteile abbauen, miteinander ins Gespräch kommen. Also: Wessis, macht euch auf in den Osten! Ossis: Ab in den Westen, um Leute zu treffen! Ich hoffe an dieser Stelle, dass Niklas Luhmann Unrecht behält, als er sagte: ‚Erfolgreiche Kommunikation ist unwahrscheinlich.‘ Sprechen hilft!“
Martin Kütz, Heimatverein Plötzky Ostelbien e.V.:
„In der Landschaft ist die Grenze, die zwischen Ost und West verlief, zwar kaum noch zu sehen, aber sie existiert meiner Meinung nach als unterschiedliche Erfahrungshorizonte weiter. Aus gutem Grund sprechen Bewohner: innen der neuen Bundesländer konsequent von der Wende und nicht von der Wiedervereinigung. Die ostdeutsche Bevölkerung hat ein autoritäres System, das in vieler Hinsicht preußischer war als die Bonner Republik, von innen heraus und unblutig gestürzt. Aber viele Menschen, die für diese Wende gekämpft haben, wurden nach dem Begrüßungsgeld mit Arbeitslosigkeit und Degradierung bestraft. Diese traumatischen Erfahrungen wirken nach, auch bei den Kindern und Enkelkindern der Wendegeneration. Inzwischen hat sich eine neue Trennlinie aufgetan zwischen denen da oben und denen da unten. Große Teile der Bevölkerung auf beiden Seiten der ehemaligen Grenze fühlen sich zunehmend bevormundet, zurückgelassen, übersehen. Die politischen Eliten scheinen zunehmend in einem Paralleluniversum zu leben. Sie schauen dem Volk nicht mehr aufs Maul, wie es Martin Luther zu Recht gefordert hat. Es ist sicherlich so, dass die Menschen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, wo die Parole „Wir sind das Volk“ noch nachhallt, ein wenig sensibler auf solche Entwicklungen reagieren. Ausufernde Bürokratie und ein größer werdendes Stadt-Land-Gefälle sind aber längst keine Privilegien des Ostens mehr. Es gibt Probleme. Aber wir müssen nicht vor ihnen kapitulieren. Vor allem nicht hier im Osten! Der Osten hat Geschichte und Kultur ohne Ende: Magdeburg war Kaiserstadt und weder Bach noch Goethe haben am Rhein gelebt. Auch wirtschaftlich kommt der Osten in Bewegung. Die alte Botschaft „Ex Oriente Lux“ („Von Osten her kommt das Licht“) sollte unser Wahlspruch sein. Gönnen wir uns doch ein wenig mehr Selbstbewusstsein! Ich jedenfalls fühle mich in meiner Wahlheimat sehr zu Hause. Es war eine gute Wahl, Ossi zu werden.“
Ortrun Vödisch, Landesheimatbund Sachsen-Anhalt e.V.:
„Ich wurde 1993 in Dresden geboren. DDR-Geschichte war in meiner Familie immer ein wichtiges Gesprächsthema, das mich als Jugendliche aber eher anödete. Relevanter wurde es für mich erst nach der Schule, als ich im Studium entdeckte, dass vermeintliche Selbstverständlichkeiten bei meinen Kommiliton:innen aus den alten Bundesländern regelmäßig Nachfragen, Staunen oder Befremden auslösten: Sei es nun die Jugendweihe als aktuelle Feier, Begriffe wie Plaste und Kaufhalle, das ‚Sport frei‘ am Beginn der Sportstunde, die Liedleistungskontrolle im Musikunterricht oder das Mosaik mit den Digedags. Meine ostdeutsche Kultur hat mich anscheinend doch mehr geprägt, als ich mir eingestanden habe. Als ich nach Baden-Württemberg gezogen bin, wurde mir meine ostdeutsche Perspektive erst so richtig bewusst. Manchmal schoss ich mit meinem Integrationswillen in der westdeutschen Fremde aber über das Ziel hinaus. Ich gewöhnte mir zum Beispiel an, Termine ‚viertel nach‘ und ‚viertel vor‘ zu vereinbaren, nur um dann zu erfahren, dass auch im Schwäbischen ‚viertel‘ und ‚dreiviertel‘ höchst verständlich sind – das ist doch eine schöne interkulturelle Verbindung!“
Anonym:
„In vielerlei Hinsicht ist das Miteinander im Verein ein ständiges Aushandeln von Interessen. Je heterogener die Zusammensetzung des Vereins ist, desto mehr Unterschiede treten auf. Diese Konfrontation mit der Andersartigkeit anderer Menschen kann inspirierend, aber auch sehr anstrengend sein. Neben Generations- und Geschlechterunterschieden spielt der individuelle Erfahrungshorizont eine Rolle. Und da gibt es tatsächlich neben der Lokalzugehörigkeit immer noch eine Ost-West-Thematik, die auf der unterschiedlichen Sozialisierung der Menschen in der BRD und der DDR beruht. Im Vereinsleben, wo man sich die Leute ja nicht immer aussuchen kann, sind beide Gruppen gut damit beraten, aufeinander zuzugehen, neugierig zu sein und Offenheit walten zu lassen. Es ist wichtig, sich gegenseitig Fragen zu stellen. So können wir Missverständnisse und Verstimmungen, die oft bloß auf der Unkenntnis von historischen Begrifflichkeiten, Fakten und Lebenswirklichkeiten beruhen, vermeiden.“
Christina May, Landesheimatbund Sachsen-Anhalt e.V.:
„Nach einem halben Jahr im neuen Job stellt meine Arbeitskollegin erstaunt fest: ‚Ach, du kommst aus dem Westen?! Das hätte ich nicht gedacht. Du bist ja gar nicht so!‘ Ich frage, nun auch verwundert: ‚Wie
bin ich denn so?‘ Sie: ‚Na ja, so … nett.'“
Wolf Guenter Thiel, Old School Havelberg:
„Es gibt Tage und Stunden, an die man sich erinnert, auch wenn sie viele Jahre vergangen sind. So ein Abend war der 9. November 1989. Ich war zu Gast bei einem Freund und Künstler, der sich im Jahr zuvor aus der DDR hat ausbürgern lassen. Er hat als Schiffsbauingenieur auf einer Rostocker Werft gearbeitet und verdiente ein für die DDR sehr ordentliches Gehalt. Als er beschloss, seinen Job aufzugeben, um Künstler zu werden, nahm das Unheil seinen Lauf: Er wurde zuerst ermahnt, dann gemobbt und schließlich entlassen. Er konnte trotz allem in der DDR kein Künstler werden. So wurde er in Ostberlin Bademeister in einem Freibad und machte Kunst, bis er beschloss, frustriert und ernüchtert in die BRD überzusiedeln. Es dauerte mehr als zwei Jahre, bis ihm die Behörden die Ausreiseerlaubnis erteilten. Er durfte nichts mitnehmen, außer zwei Koffer – einer davon enthielt hunderte Druckgrafiken von Werner Tübke, Volker Stelzmann und Walter Libuda. Er kam 1988 in Köln an und wir lernten uns kennen. Ich half ihm dabei, die Druckgrafiken zu verkaufen und am Abend des 9. November arbeiteten wir an einem Verzeichnis seiner Druckgrafiken. Wir waren guter Stimmung, bis das Telefon klingelte und ein Freund anrief: ‚Macht den Fernseher an!‘ Etwas ganz Großes sei im Gange. Im Fernsehen sahen wir eine Live-Berichterstattung aus Berlin, wo Menschen die Grenzübergänge in Massen überquerten. Zuerst dachten wir, es handele sich um einen Film, bis wir verstanden, dass die Mauer jetzt ganz offiziell geöffnet worden war. Wir sahen uns an und konnten es nicht glauben. Ich habe nie wieder einen Menschen so fassungslos gesehen, wie meinen Freund damals. Tränen rannen ihm über das Gesicht und anstatt sich zu freuen, sagte er – das werde ich nie vergessen: ‚Und dafür habe ich nun jahrelang gelitten und alles aufgegeben.‘ Ich erinnere mich daran, dass er wütend war und von ‚Opportunisten und Mitläufern‘ redete. Ich verabschiedete mich. Es war ein sonderbares Erlebnis.“
Martin Kütz, Heimatverein Plötzky Ostelbien e.V.
„Mich verschlug es 2009 vom Rhein-Main- Gebiet nach Plötzky, einem ostelbischen Stadtteil von Schönebeck (Elbe). Ziemlich schnell wurde ich Mitglied im Heimatverein, rutschte 2014 in die Kommunalpolitik und wurde als Zugezogener aus dem Westen sogar Ortsbürgermeister. Ich habe es häufig erlebt, dass bei geselligen Vereinsveranstaltungen oder anderen Festen im Dorf spät am Abend die ‚Wendestunde‘ anbricht. Ein beliebtes Gesprächsthema ist das Personal, das kurz nach der Wiedervereinigung vom Westen in den Osten kam. Gern spotten die Plötzkyer:innen dann nach Herzenslust über die ‚B-Ware‘ aus den ‚gebrauchten Bundesländern‘, deren Selbstbewusstsein größer war als die fachliche Kompetenz. Die Helden dieser Geschichten machen in aller Regel keine gute Figur. Auf dem Höhepunkt dieser Lästereien kann es sich meine Partnerin dann nicht verkneifen zu erwähnen, dass ich ja auch ‚von drüben‘ sei. In der gerade noch so fröhlichen Runde macht sich eine schweigsame Ver- legenheit breit, die sich aber schnell wieder löst, denn der enttarnte Wessi grinst über beide Ohren und steuert dann seinerseits die ein oder andere Anekdote über hochbezahlte Versager bei. Was ist die Moral von der Geschichte? Ich hatte nie Probleme, in meiner Wahlheimat anzukommen. Man muss aber auch ankommen wollen, neugierig sein und das Vorgefundene erst einmal so akzeptieren, wie es ist. Besserwisserei ist immer fehl am Platze.“
Christian Sadel, Landesheimatbund Sachsen-Anhalt e.V.:
„Ich komme aus Tangermünde, meine Frau kommt aber ‚von drüben‘, aus einem Dorf in der Nähe von Hildesheim – also nicht besonders weit von der ehemaligen innerdeutschen Grenze entfernt. Bei einem meiner ersten Besuche dort fragte mich bei einer Party ihr jüngerer Bruder, warum ich denn eigentlich kein Ostdeutsch spräche? Auf meine Frage, warum er denn kein Bayerisch spräche, sagte er mir, er käme ja nicht aus Bayern, ich aber durchaus aus Ost- oder, wie er sich ausdrückte, aus ‚Dunkeldeutschland‘. Erst meine Frage, ob er dieselbe Frage auch einem Rostocker gestellt hätte, ließ ihn einsehen, dass es wohl keine ostdeutsche Sprache gibt. Damit meinte er übrigens jene dialektalen Formen des Deutschen, die man gemeinhin unter Sächsisch zusammenfasst.“
Rainer Schulze, Wernigeröder Kunst- und Kulturverein e.V.:
„Um es vorwegzusagen: Wir haben keinerlei Probleme mit der Herkunft eines Mitglieds. In zunehmendem Maße ist es egal, wo jemand herkommt. Natürlich haben wir immer noch mehr Mitglieder aus dem Osten, das liegt in der Natur der Sache. Und gelegentlich gibt es auch mal Diskussionen zu grundsätzlichen Problemen und dazu auch unterschiedliche Meinungen. Das ist aber eher die Ausnahme. Ob der Wein nun aus Italien, Saale-Unstrut oder Franken kommt, ist allen herzlich egal, solange er gut schmeckt. Und da Hasseröder in Wernigerode nun mal kein alkoholfreies Bier macht, bleibt eben nur das aus Clausthal. Kein Problem. Gerade stellen wir Künstler:innen aus Leipzig aus, vorher waren’s solche aus Hildesheim und davor kamen sie aus Mecklenburg. Das Publikum interessiert die Kunst. Die Herkunft eher weniger. Im Verein haben wir eine monatliche internationale Stammtischreihe, bei er sich Studierende der Hochschule treffen. Sie kommen aus fünf bis zehn unterschiedlichen Ländern, sie studieren alle BWL mit Ausrichtung Tourismus, was für ein internationales Flair sorgt. Und ob das Essen aus Mexiko stammt oder aus Japan – die Hauptsache ist, dass es allen schmeckt.“






LHBSA

LHBSA