John-Cage-Orgel-Stiftung Halberstadt, Foto: RG
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Nichts als Klänge – mehr als 600 Jahre
Das John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt in Halberstadt
Sound: zunächst unsichtbar und körperlos, Schwingungen in der Luft, die sich mit Schallgeschwindigkeit ausbreiten. Wenn sie regelmäßig, periodisch sind, spricht man von einem Ton, mehrere davon nennt man Klang. Die meisten Klänge entstehen durch Aktion, es wird zum Beispiel etwas geschlagen, gezupft, gestrichen, gesungen oder angeblasen. Wahrgenommen werden die Luftschwingungen durch das Ohr mit seinem Trommelfell oder direkt über den ganzen Körper. Aber auch das Auge hört mit: Ein live erlebtes Konzert hört sich anders an als dessen durch Lautsprecher vermittelte Aufnahme.
John Cage (1912–1992), einer der bedeutendsten Künstler in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Komponist, Philosoph, Maler und Sprachartist, liebte Sounds, und zwar nicht nur die regelmäßigen, periodischen Luftschwingungen, die wir mit unserer Stimme oder Musikinstrumenten erzeugen, sondern auch die unregelmäßig, nicht periodisch verlaufenden, die wir Geräusche nennen. Für ihn gehören diese gleichberechtigt mit Tönen und Klängen zum musikalischen Material, und deshalb liebte er auch den sound of traffic – im Deutschen funktioniert das nicht: ‚Verkehrsklang‘ gibt es weder im Grimmschen Wörterbuch noch im Duden, es klingt verkehrt.
Er liebte diese Klänge und Geräusche so, wie sie waren, ohne zusätzliche Bedeutungen, Zwecke, Funktionen, größere Zusammenhänge oder Interpretationen: nichts als Klänge und Geräusche, die einfach da sind und die sie selbst sein dürfen. Mit dieser Intentionslosigkeit als bewußter Abwesenheit von Bedeutung verweist die Musik von John Cage als Vorschein auf einen gesellschaftlichen Zustand der Herrschaftsfreiheit.
Sinnlich erfahren kann man das in der Halberstädter Burchardi-Kirche. Seit über zwanzig Jahren erklingt dort ein Orgelstück von John Cage, ununterbrochen, Tag und Nacht: ORGAN²/ASLSP. Der Titel bedeutet unter anderem As Slow as Possible – so langsam wie möglich. Ausgangspunkt war ein Klavierstück, das Cage 1987 für den deutschen Organisten Gerd Zacher umgeschrieben hat. Nichts ist festgelegt – außer der Tonhöhe und der relativen Dauer der Klänge. Eine angeschlagene Klaviersaite schwingt aus. Die Orgel ist ein Blasinstrument, ein Aerophon, daß den Ton halten kann, solange sie mit Wind versorgt wird. Was also heißt ‚so langsam wie möglich‘ bei einer Orgel?
John-Cage-Orgel-Stiftung Halberstadt, Foto: RG
St.-Burchardi-Kirche zu Halberstadt (links) mit der Metallskulptur von Johann-Peter Hinz
1998 wurde auf einer Tagung für Orgelmusik in Trossingen die damals utopische Idee einer Realisierung dieses Stückes, die sich an der Lebensdauer einer Orgel orientiert, entwickelt, unter anderem von Christoph Bossert, Hans-Ola Ericsson, Heinz-Klaus Metzger und Jakob Ullmann. Durch letzteren kam die Idee zu Johann Peter Hinz nach Halberstadt. Mit der Burchardi-Kirche wurde zuerst der Ort der Aufführung gefunden. Dann erinnerte man sich, das Halberstadt schon einmal Orgel- und Musikgeschichte geschrieben hat. Mitte des vierzehnten Jahrhunderts gab es im Halberstädter Dom die wahrscheinlich erste Großorgel mit einer 12-tönigen Klaviatur. Die Fertigstellung dieser gotischen Orgel 1361 gab die Orientierung für die Dauer der Aufführung: Mit der Jahrtausendwende als Spiegelachse wurde die Dauer auf 639 Jahre festgelegt. Die Ewigkeit dauert in Halberstadt also bis zum 4. September 2640, die ersten Eintrittskarten – Final Tickets – für die Schlußveranstaltung sind schon verkauft.
Am 5. September 2001, zum 89. Geburtstag von John Cage, wurde der Blasebalg angeworfen – der erste Sound, ein Rauschen –, 2003 hörte man die ersten drei Pfeifen. Die Orgel selbst: klein und zierlich, sie enthält immer nur die Pfeifen, die für den jeweils aktuellen Klang vorgeschrieben sind, die Tasten mit Sandsäckchen beschwert. 2006 war sehr hektisch, es gab zwei Klangwechsel in einem Jahr. Seit 2011 erklingen im Vordergrund zwei 16-Fuß-Baßpfeifen, c‘ und des‘ – letztere übrigens bis zum Jahr 2068. Ein Sound, der zwischen Maschinenraum und Hamburger Hafen changiert. Der 16. Klangwechsel war am 5. Februar 2024, der nächste findet am 5. August 2026 statt.
John-Cage-Orgel-Stiftung Halberstadt, Foto: RG
Rainer Neugebauer beim Tausch der Pfeifen zum Klangwechsel
Getragen wird das Projekt von einer privaten Stiftung, die mit minimalem Grundkapital ausgestattet ist und rein ehrenamtlich arbeitet, unterstützt von einem Förderverein, der auch eine aktive Jugendarbeit macht: young cage. Es lebt in erster Linie von Eigenmitteln und der Spendenbereitschaft der Cage-Enthusiasten, privater Förderer, befreundeter Stiftungen und der vielen Besucher. Konzerte, Lesungen, Ausstellungen, Seminare in Kooperation mit Musikhochschulen, Meisterkurse, Workshops, der inzwischen renommierte Cage Award und wissenschaftliche Tagungen mit internationaler Beteiligung sind stark beachtete weitere Aktivitäten.
Mit offenen Ohren und mit offenem Geist kann man in der jahrhundertealten Burchardi-Kirche seit Beginn des dritten Jahrtausends eine Sinneserfahrung ganz eigensinniger Art erleben. Ein wahrhaft transepochales Zeit-Stück, einen Klang-Raum mit erlebter Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft, ein weltweit anerkanntes Referenzprojekt moderner Musik und Kunst: Nichts als Klänge.
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Rainer O. Neugebauer
Pädagoge, Historiker und Sozialwissenschaftler, Promotion mit einer Arbeit über antifaschistischen Jugendwiderstand, emeritierter Professor für Sozialwissenschaften, musikalischer Dilettant, Senior-Kurator beim John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt Halberstadt, war dort langjährig künstlerischer Leiter, u. a. mitverantwortlich für die Berechnung der Klangwechsel.
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