
RANA / Frank Meyer
Artikel
Hier fließt’s zusammen
Naturschutz, Heimatforschung und Industriekultur – wer sich für die Heimat engagiert, kommt am Thema Wasser nicht vorbei.
Ehrenamt am Wasser gibt es nur an der Küste? Von wegen! Auch im Binnenland Sachsen-Anhalt richtet sich der Takt des bürgerschaftlichen Engagements und kultureller Praktiken vielerorts nach dem seichten Plätschern des Wassers-sei es bei der Flößerei am Elstergraben, beim Bad Dürrenberger Brunnenfest oder der historischen Salzgewinnung, um nur einige bekannte Beispiele zu nennen. Welchen großen Einfluss die An- und Abwesenheit von Wasser auch heute noch auf Menschen und Natur in Sachsen-Anhalt ausübt, wurde zuletzt angesichts des Hochwassers im vergangenen Winter und während der Dürren der letzten Sommer deutlich. Das Sachsen-Anhalt-Journal hat Engagierte im Salzlandkreis, in der Börde und im Elb-Havel-Winkel besucht, die Wasser suchen, an Wasser erinnern oder Wasser erhalten wollen.
Besucher:innen brauchen nicht lange zu suchen, um die Nienburger Liebe fürs Wasser zu entdecken. An jeder zweiten Straßenecke wird man von dem wellenförmigen Stadtlogo daran erinnert, dass „es in Nienburg zusammenfließt“. Gemeint sind die Flüsse Saale und Bode, die im Nienburger Stadtgebiet aufeinandertreffen, wobei auch die mächtige Elbe nur einen Steinwurf entfernt liegt. Das Städtchen hat etwas mehr als 7.000 Einwohner:innen – einige von ihnen engagieren sich seit Kurzem für den Erhalt des alten Wasserturms. Er habe eine emotionale Bindung zu dem fast 36 Meter hohen Turm, erzählt der Vereinsvorsitzende Thorsten Schack während einer Ortsbegehung mit dem Sachsen-Anhalt-Journal: „Jedes Mal, wenn ich nach Nienburg hineinfahre, sehe ich den Wasserturm schon von weitem. Dann weiß ich: ‚Gleich bin ich wieder zuhause.‘“ Deswegen fand er es schon immer schade, dass die altehrwürdige Landmarke heutzutage lediglich als Mobilfunkturm genutzt wird. Im November 2021 trommelte er deshalb einige Freunde und Nachbarn zusammen, darunter Gerd Vogel, Michael Hollmann und Frank Schöbe. „Es passierte ja einfach nichts mit dem Turm“, blicken die Männer heute auf die Zeit vor der Vereinsgründung zurück, „obwohl es sich bei dem Wasserturm um eines von nur noch drei historischen Industriedenkmälern in Nienburg handelt. Die Kommunen haben einfach kein Geld“ – zumindest nicht, um alle Gebäude zu sanieren.
Während das Klubhaus „Maxim Gorki“ am Stadtrand für Kulturveranstaltungen und das Vereinsleben der Stadt genutzt wird, fällt das Fabrikgebäude der Hallströmschen Werke in der Innenstadt, das zu DDR-Zeiten noch ein Kino beherbergte, inzwischen förmlich in sich zusammen. Recht schnell gedieh bei den Männern die Erkenntnis: Wenn sie nichts machen, macht keine:r was. Nienburgs Stadtslogan „Hier fließt’s zusammen“ könnte sich ebenso gut auf Havelberg im äußersten Nordosten Sachsen-Anhalts beziehen. In unmittelbarer Nähe der Stadt, die das Wasser bereits im Namen trägt, mündet die Havel in die Elbe. Durch das Stadtgebiet mäandern mehrere Havelarme, sodass man in jede Richtung nur wenige hundert Meter laufen muss, um an einem Ufer zu stehen. Auf dem nördlichen Havelufer thront der Dom über der Stadtinsel, auf der das historische Zentrum der alten Hansestadt liegt. Am Südufer steht seit der Bundesgartenschau 2015 das Haus der Flüsse, das neben dem Auenhaus in Oranienbaum-Wörlitz eines von zwei Informationszentren des Biosphärenreservates Mittelelbe darstellt, welches im länderübergreifenden Verbund den UNESCO-Titel trägt. Der eindrucksvolle, längliche Holzbau ist so etwas wie eine moderne Neuinterpretation der Arche Noah. Und auch wenn Fachbereichsleiter Philipp Ritzmann hier nicht buchstäblich Tiere vor einer bevorstehenden Sintflut rettet, hat sein Engagement für Flora und Fauna doch auch eine Menge mit Wasser – oder der Abwesenheit von Wasser – zu tun.

Landesheimatbund Sachsen-Anhalt / Yulian Ide
Eine moderne Arche Noah? Das Haus der Flüsse beeindruckt mit klarer Kante.

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Fachbereichsleiter Philipp Ritzmann blickt vom Haus der Flüsse auf die untere Havel
„Sachsen-Anhalt ist statistisch gesehen eine der trockensten Gegenden in ganz Deutschland“, erzählt er im Gespräch mit dem Sachsen-Anhalt-Journal, „Niederschläge, die sich aufgrund der vorherrschenden Windrichtung vorwiegend aus dem Atlantik und dem westlichen Mittelmeer rekrutieren, sind bei uns nicht mehr so ergiebig und bleiben bildlich gesprochen oftmals schon an der Westseite des Harzes hängen. Ein großer Teil des Problems ist aber menschengemacht“, führt der studierte Landschaftsplaner weiter aus. Viele Flussauen in Deutschland seien viel zu dicht bebaut. Versiegelte Flächen können das Wasser aus Niederschlägen nicht in der Landschaft halten, was so wichtig wäre, um es wieder dem Grundwasserspiegel zuzuführen. Stattdessen fließe ein Großteil des Wassers zu schnell ab. Die Folge sind ausgedörrte, wasserabweisende Böden bis in mehrere Meter Tiefe, die es der einheimischen Pflanzenwelt schwer machen, auf ihnen zu überleben. Der damit einhergehende Verlust von wichtigen Lebensräumen hat katastrophale Auswirkungen auf die heimische Tierwelt. Insbesondere Wasserlebewesen sind in den letzten Jahren immer stärker betroffen. Viele der Symptome des Klimawandels beeinflussen einander zusätzlich negativ, auch wenn das auf den ersten Blick paradox klingen mag: Mehr Dürren führen zu stärkeren Hochwasserereignissen.
„Bestimmte Landschaften sollten regelmäßig unter Wasser stehen.“
Heiligtum im Auenland
Dürren und Hochwasser waren in der Börde wohl nicht am Werk, aber auch hier ist vor einigen Jahrhunderten ein Flüsschen einfach so verschwunden, ist sich Katja Röber, Mitglied im Heimat- und Kulturverein Dahlenwarsleben e.V. und Heimatforscherin, sicher. Sie sucht seit einiger Zeit ein nur wenige hundert Meter langes Fließgewässer – oder eher dessen Quelle in der Nähe ihres Heimatdorfs. „Ich habe vor einer Weile ein Buch mit alten Sagen gefunden“, erzählt die Gersdorferin. Darin ist von verschiedenen germanischen Gottheiten die Rede, denen die verschiedenen Erhebungen am Gersdorfer Kessel zugeordnet werden. Demnach habe das Götteroberhaupt Wotan auf dem Teufelsberg, der Lichtgott Baldur auf dem Phalberg, der Donnergott Thor auf dem Donnersberg und die Frühlingsgöttin Ostara auf dem Drömseberg gewohnt (siehe Infokasten). Diese Berge formen einen hufeisenförmigen Höhenzug auf dem Gebiet der Gemeinden Hohe und Niedere Börde, in dessen Mitte der namensgebende Dahlenwarsleber Ortsteil liegt, in dem Katja Röber zuhause ist. „Laut der Sage war der Gersdorfer Kessel in vorchristlicher Zeit so etwas wie ein Runder Tisch für die Götter“, fasst Katja Röber die Überlieferung zusammen. Die Sage erwähnt außerdem eine heilige Quelle am Drömseberg, der mit Ostara und möglicherweise dem in dieser Gegend weitverbreiteten Osterwasser-Brauch in Verbindung steht. „Aber selbst in der Überlieferung war die Quelle schon seit 150 Jahren verschwunden“, so die Heimatforscherin.

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Heimatforscherin Katja Röber und ihr Terrier Koko am Fuß des Drömsebergs.

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Im Gersdorfer Kessel könnte es eine alte Quelle gegeben haben, vermutet Katja Röber.
Der Gedanke an diesen heiligen Ort in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft ließ die Gersdorferin seitdem nicht los. „Ich komme eigentlich aus Staßfurt und bin 2007 in die Börde gezogen. Natürlich habe ich mich dann erstmal schlau gemacht: ‚Was ist das überhaupt für ein Ort, in dem ich hier gelandet bin‘“, erinnert sie sich heute bei einem Spaziergang auf dem Bergkamm. Ihr weißer Terrier Koko läuft fröhlich voraus, während sie den Blick einen Moment vom „Kesselrand“ über das „Kesselinnere“ schweifen lässt. Und tatsächlich: Die Lage Gersdorfs, wie auf der Bühne inmitten eines Amphitheaters, fällt sofort auf. Die Gemeinden Hohe Börde und Niedere Börde grenzen hier aneinander. Katja Röber gefällt die abwechslungsreiche Landschaft: „Freunde, die mich hier besuchen kommen, haben schon gesagt, die Landschaft sehe aus wie bei den Hobbits im Auenland.“ Dass man dasselbe bald über ganz Sachsen-Anhalt sagen könnte, hat sich Philipp Ritzmann vom Haus der Flüsse vorgenommen: „Naturnahe Flussauen sind unsere Lebensversicherung“, betont er. Die meisten Flüsse in Sachsen-Anhalt seien stark durch die menschliche Nutzung geprägt. Das schränke die natürliche Pufferfunktion von Flussauen ein. Er verdeutlicht das an einem kippbaren Schaukasten in der Dauerausstellung im Haus der Flüsse: Blaue Holzkugeln, die für Niederschläge stehen, rollen in schneller Geschwindigkeit durch eine Modelllandschaft mit begradigtem Flusslauf und ufernaher Bebauung, während sie sich nur langsam einen Weg durch mäandernde Flüsse und unversiegelte und bewaldete Auenlandschaften bahnen können.
„Bestimmte Bereiche sollten regelmäßig unter Wasser stehen“, mahnt Philipp Ritzmann.
Die Wasserqualität der Flüsse in Sachsen-Anhalt sei äußerst unterschiedlich. Das lasse sich besonders gut an der Bode, auf die sich die Nienburger:innen in ihrem Stadtslogan beziehen, sehen. Philipp
Ritzmann zufolge habe sie zwei Gesichter: „Der Fluss weist einerseits im Oberlauf tolle Strukturen auf. Durch die Einleitung salzhaltiger Abwässer befindet sie sich andererseits vor allem im Bereich der Mündung zwischen Staßfurt und Nienburg in einem chemisch kritischen und somit auch ökologisch bedenklichen Zustand“.

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Gerd Vogel und Thorsten Schack vor dem Eingang des Nienburger Wasserturms

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Detail- und Innenaufnahmen des Nienburger Wasserturms
Vereinseinstand zum Wasserturmgeburtstag
Der Wasserbegeisterung im Salzlandkreis tut das allerdings keinen Abbruch: Nur zwei Jahre nach seiner Gründung könne der Nienburger Wasserturm Verein e.V. bereits auf eine steile Karriere zurückblicken, erzählt Thorsten Schack. Ein Fest zum 120. Turmgeburtstag im April 2023, das ursprünglich „nur aus ein paar Bierzeltgarnituren“ bestehen sollte, entpuppte sich noch während der Planungsphase als ausgewachsenes Volksfest, an dem „alle in der Stadt in irgendeiner Form beteiligt waren“. Mehrere Hundert Nienburgerinnen und Nienburger besuchten das Wahrzeichen an seinem Ehrentag, und 15 Vereine und Institutionen – darunter der Verein zur Förderung der Kultur- und Denkmalpflege sowie der Heimatpflege der Stadt Nienburg (Saale) e.V., dem sich die Wasserturm-Vereinsleute freundschaftlich verbunden fühlen – beteiligten sich mit Ständen an dem Fest auf dem dreieckigen Areal zwischen Gattersleber Straße, Bauernweg und Friedhof. Der erfolgreiche Wasserturmgeburtstag war ein erster Höhepunkt, der für Aufbruchstimmung in der kleinen Stadt an der Saale sorgte: Der einstige Männerklub entwickelte sich in der Folgezeit zu einem Familienverein mit inzwischen 35 Mitgliedern – davon die Hälfte Frauen. Mit der Stadt, die Eigentümerin des Wasserturms ist, führen die Vereinsleute momentan Gespräche über die zukünftige Nutzung des Baudenkmals. Nach verschiedenen Ideen, die momentan im Vereinsumfeld kursieren, könnten im Wasserturm in Zukunft ein Planetarium, eine Kunstgalerie, eine Außenstelle des Standesamtes, eine Aussichtsplattform oder ein Veranstaltungssaal auf mehreren Etagen entstehen. Aber ganz egal, welche Träume in dem Turm schlussendlich verwirklicht werden, Thorsten Schack und seine Mitstreiter fühlen sich auf dem Weg dahin vor allem dem Denkmalschutz verpflichtet: „Die modernen Antennen müssen ab“, stellen sie gleich klar. Tatsächlich wirken die neuzeitlichen Plastikelemente, die in etwa 30 Metern Höhe direkt unter dem Turmdach installiert sind, recht fehl am Platz in der historischen Klinkerkulisse. Ganz so einfach ist die Demontage allerdings nicht. Wenn Nienburg nicht vollständig in einem Funkloch versinken soll, müsse zunächst einmal ein neuer Mobilfunkmast an einem anderen Standort gebaut werden. „Wir würden gern sofort loslegen, aber dieser Prozess liegt nicht in unserer Hand“, bedauert der Vereinsvorsitzende die erzwungene Wartezeit. Sämtliche geplante Bauvorhaben am Gebäude, wie die Freilegung der zugemauerten Fenster, die Rekonstruktion der historischen Bleiglasfenster, die etwaige Installation einer Beleuchtung sowie der Rückbau des weitgehend verrosteten Kessels, in dem früher das Wasser gesammelt wurde, liegen deshalb vorerst auf Eis.
Von der Sage zur 3D-Karte
„Es gibt in der Umgebung einige Personen, die Ortschroniken führen. Mit der Sage oder der alten Quelle am Drömseberg konnten sie aber nichts anfangen“, erinnert sich Katja Röber. Im Jahr 2022 nahm sie deshalb am Grundlagenkurs für Heimatforscher: innen und Ortschronist:innen teil, den der Landesheimatbund anbietet. Sie wollte sich das notwendige Wissen aneignen, um mehr über ihre Wahlheimat in der Börde in Erfahrung zu bringen. Bei einem Kurstermin lernte sie Martin Freudenreich vom Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt kennen, der schließlich mit moderner Technologie eine 3D-Karte der fraglichen Gegend für sie anfertigte. Diese Karte entpuppt sich schließlich als Durchbruch in Katja Röbers Forschung: Gut zu erkennen sind der Mönchsgraben und Telzgraben – zwei Entwässerungsgräben, die jeweils vom Westrand des Gersdorfer Kessels nach Osten fließen. Die Höhenunterschiede von bis zu 70 Metern zwischen den höhergelegenen Dörfern Hermsdorf und Hohenwarsleben und Gersdorf und Dahlenwarsleben im Inneren des Kessels sind auf der Karte deutlich zu sehen. Und noch etwas wird dank moderner Technologie deutlich: Südlich des Drömsebergs in der Gemarkung Hermsdorf, also genau dort, wo die Sage die alte Quelle lokalisiert, könnte es tatsächlich ein Altgewässer gegeben haben.
Gab es ein Dorf an der alten Quelle?
Auf Satellitenbildern ist außerdem eine C-förmige Struktur von knapp 100 Metern Durchmesser im Feld zu erkennen, in der Martin Freudenreich eine Wüstung vermutet. „Ob es hier tatsächlich ein Dorf gegeben hat, müssten archäologische Ausgrabungen zeigen“, ergänzt Katja Röber, während sie auf der unscheinbaren Grünfläche steht. Obwohl die Verfärbung des Bodens aus der Vogelperspektive deutlich zu sehen und auch für Laien als menschengemacht zu identifizieren ist, sieht man auf der landwirtschaftlichen Fläche nichts.
Deswegen verwundert es kaum, dass die genaue Lage der Quelle über die Jahrhunderte vergessen wurde. „Einzelne Keramikscherben wurden an dieser Stelle gefunden“, erzählt Katja Röber während des Spaziergangs: „Andere Überlieferung sprechen wiederum ausdrücklich davon, dass das Wasserheiligtum am Fuß des Drömsebergs gelegen habe. Dort soll ein großer Findling gestanden haben, der allerdings später gesprengt und als Baumaterial verwendet wurde. Diese Beschreibung steht eher im Widerspruch zu der 3D-Karte, die die Quelle und die Wüstung hangaufwärts lokalisiert.“
Erschwerend kommt hinzu, dass es in der stark landwirtschaftlich genutzten Börde kaum einen Quadratmeter gibt, der heute noch in seinem Ursprungszustand besteht. „Es ist aber denkbar, dass sich Oberflächenwasser an dieser Stelle gebildet hat, bevor die Gegend systematisch entwässert wurde“, mutmaßt die geschichtsinteressierte Heimatforscherin.

Jürgen Dürrmann
Diese Zeichnung von Jürgen Dürrmann legt nahe, dass der Findling und die Quelle am Fuß des Drömsebergs gelegen haben.

Martin Freudenreich / Landesamt für Vermessung und Geoinformation / Google Satellite
3D-Karte des Gersdorfer Kessels
„Hier ist viel Platz!“
Menschen und Natur zusammenbringen
Die jahrhundertelange Einmischung des Menschen in die Naturräume Sachsen-Anhalts treibt Philipp Ritzmann vom Haus der Flüsse in Havelberg seit jeher um. „Ich komme aus einer Jäger- und Anglerfamilie und war als Kind ständig draußen in der Natur“, erzählt der 36-Jährige, der in Aschersleben geboren wurde und in Pansfelde aufgewachsen ist. Durch seinen Wehrdienst sei er erstmals länger in Norddeutschland gewesen und habe sich vor allem in die wasserreichen Landstriche verliebt, die ihm später in der nordöstlichen Altmark wiederbegegnen sollten. An der Hochschule Anhalt absolvierte er den Studiengang Naturschutz und Landschaftsplanung mit einer Abschlussarbeit über die Wiederansiedlung von Lachsen und Meerforellen in der Prignitz. Nach einer kurzen Zwischenstation beim Biosphärenreservat Niedersächsische Elbtalaue in Hitzacker landete er 2019 schließlich etwas weiter flussaufwärts in Havelberg.
Im Haus der Flüsse sieht Philipp Ritzmann seitdem seine primäre Aufgabe darin, „Menschen und Naturschutz zusammenzubringen“. Was leicht klingt, sei aber mit Zugeständnissen vonseiten der Menschen verbunden, macht er deutlich. „Immer häufiger auftretende Hochwasserereignisse, wie beispielsweise zuletzt an der Helme im Südharz, sind vor Ort sichtbare Auswirkungen des Klimawandels, der ansonsten für viele Menschen etwas abstrakt bleibt“, so Philipp Ritzmann: „Unser Umgang mit unseren Flüssen nimmt eine entscheidende Position ein, wenn wir solche Katastrophen in Zukunft verhindern oder abmildern wollen.“ Dem ländlichen Raum komme dabei eine besondere Bedeutung zu, ist er sich sicher: „Hier im Elb-Havel-Winkel und in der Altmark ist viel Platz, um an den Flüssen gute Bedingungen für die Natur zu schaffen, von denen auch städtische Räume profitieren“, erläutert er. Ein gutes Beispiel sei der Auwald Hohe Garbe in einer Elbschleife im äußersten Norden Sachsen-Anhalts. Durch den Deichbau werden heutzutage nur noch wenige flussnahe Gebiete regelmäßig überschwemmt.
„Die Hohe Garbe ist eine naturnahe und weitgehend intakte Auenlandschaft, wie wir sie nur noch sehr selten finden“, lobt Philipp Ritzmann: „Auch wenn das für viele, die von dem jüngsten Hochwasser betroffen waren, paradox klingt: Über kleine Frühjahrshochwasser freuen wir uns.“ Wenn Wasser in der Landschaft sei, habe das immer einen Wert für Flora und Fauna. Wechselnde Wasserstände sorgen für eine besonders hohe Artenvielfalt, da sich verschiedene Tiere nur in temporären Gewässern fortpflanzen können. Weiträumige Überflutungsflächen entlang von Flüssen seien nicht nur ein hervorragender Hochwasserschutz, erklärt Philipp Ritzmann. Versickerndes Wasser käme außerdem dem Grundwasserspiegel zugute. Naturnahe Auenlandschaften erhalten sich beinahe von selbst: Sobald größere Pflanzen, wie Bäume, auf den fruchtbaren Böden Wurzeln schlagen, verlangsamen diese die Fließgeschwindigkeit des Flusses bei Hochwasser und werfen Schatten, die die Umgebung abkühlen und auch in heißen Sommern Oberflächentrockenheit entgegenwirken. Dauerhaft feuchte Böden bieten wiederum auch dem Menschen eine Grundlage für angepasste Bewirtschaftung in
den angrenzenden Bereichen.
Für viele Vereine im Norden Sachsen-Anhalts ist die Natur Ehrensache
Von dem Prädikat „naturnah“ sind viele Flüsse momentan aber noch weit entfernt. „Nur 9 Prozent aller Oberflächengewässer in Sachsen-Anhalt sind momentan in einem ökologisch guten Zustand“, schildert Philipp Ritzmann die kritische Lage, „und viele davon sind kleinere Bäche im Harz.“ Insgesamt gehe es aber voran, ist er sich sicher und verweist auf die vielen kleinen und großen Projekte, die bereits zu einer Verbesserung der Situation an der Elbe und ihrer Nebenflüsse beigetragen haben. Ein besonders bemerkenswertes Beispiel, schildert Philipp Ritzmann, sei die Renaturierung der Unteren Havel unmittelbar vor dem Haus der Flüsse. Um solche erfreulichen Trends fortzusetzen, probieren er und sein 12-köpfiges Team im Fachbereich zukünftig auch die Kraft des Ehrenamts zu aktivieren: Unter dem Titel „Ehrensache Natur“ bauen sie aktuell ein Netzwerk aus ehrenamtlichen Naturschützer:innen im Umfeld des Biosphärenreservats Mittelelbe auf.
„In einigen Orten im Elb-Havel-Winkel und in der Altmark finden wir bereits bestehende Vereinsstrukturen, die sich dem Schutz der Natur verschrieben haben“, lobt der Fachbereichsleiter. Der Förderverein Naturschutz im Elb-Havel-Winkel e.V., der Naturerbeverein-Vissum e.V., der Natur- und Heimatverein Bismark Kläden e.V. und der Kultur-Landschaft- Altmark e.V. sind nur einige der unzähligen Vereine, die sich für die Natur im Norden Sachsen-Anhalts engagieren. Nachwuchs- Naturschützer:innen können sich außerdem für ein Freiwilliges Ökologisches Jahr im Haus der Flüsse bewerben. Von Rückschlägen lassen sich auch die Ehrenamtlichen in Nienburg nicht entmutigen. Die unfreiwillige Karenzzeit bis zur Demontage des Mobilfunkmasts nutzt der Wasserturm-Verein für artverwandte, sinnstiftende Aktivitäten: In seinem Privathaus hat Thorsten Schack einen Kellerraum eingerichtet, um Vorstandssitzungen des Vereins abzuhalten. Für Mitgliederversammlungen weichen die Wasserturmfreunde in die Gaststätte Zum Schiffchen aus – die Gastwirtin ist ebenfalls Vereinsmitglied. Bei Vereinsausflügen in der Umgebung steht immer wieder das Thema Wasser im Mittelpunkt, wie etwa bei der Besichtigung der Rappbodetalsperre und des Wasserwerks Wienrode oder einer geplanten Mondscheinfahrt auf der MS Saalefee in Bernburg im bevorstehenden Sommer. Das Ehrenamt soll Spaß machen, „aber wir sind kein Fetenverein“, betonen die Vorstandsmitglieder. Mit Mitteln aus dem SonderFonds MikroKultur hat der Verein 2023 eine Sitzgruppe vor dem Wasserturm finanziert – ein erster Schritt, um die bisher weitgehend ungenutzte Fläche rundum den Turm zu einem Treffpunkt für die Einwohner:innen und Besucher:innen der Stadt aufzuwerten. „In Nienburg fließt’s zusammen“ – in der Vorstellung von Thorsten Schack und seinen Vereinskolleg: innen lässt sich der Stadtslogan bald auch auf den Wasserturm anwenden. „Er soll ein Ort sein, an dem Bürgerinnen und Bürger, ortsansässige Unternehmen, Vertreter:innen der Vereine und der Verwaltung im buchstäblichen und übertragenen Sinne zusammenkommen, ihre Ressourcen bündeln, miteinander Ideen austauschen und Netzwerke bilden, um unser gemeinsames Kulturerbe zu bewahren“, so der Vereinsvorsitzende. Als Nächstes will der Verein den Weg vom Bürgersteig zur Eingangstür des Wasserturms in Eigenleistung neu pflastern. Außerdem soll der Wasserturmgeburtstag zur guten Nienburger Tradition werden, wenn es nach Thorsten Schack und seinen Mitstreiter:innen geht: „Das 125-jährige Jubiläum im Jahr 2028 werden wir sicherlich wieder mit einem großen Fest begehen“, ist er sich sicher. Und wer weiß, vielleicht haben dann auch schon einige der geplanten Bauarbeiten am und im Wasserturm begonnen.

Wasserturm Nienburg e.V.
Der 120. Wasserturmgeburtstag im April 2023 entpuppte sich als ausgewachsenes Volksfest.