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Heinrich Schütz und der Klang des 16. & 17. Jahrhunderts

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Sachsen-Anhalt-Journal - „Sound“ (Nr. 2, 2025)

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Fest & Tradition Geschichte Kunst & Musik

Wenn wir heute an Musik denken, dann meist an die aus der „Konserve“: als abrufbares Erlebnis, jederzeit verfügbar und technisch perfektioniert. Doch in der Zeit Heinrich Schützens, am Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert, war Musik immer auch ein soziales, ein leibhaftiges Ereignis: Wer hören wollte, musste Menschen zum Klingen bringen.

Musik war ein Teil des Lebens, der Arbeit, des Glaubens und der Bildung – sie war Ausdruck von Macht, Frömmigkeit, Gemeinschaft und für manche: Berufung. Das Leben von Heinrich Schütz fiel in eine kulturelle Übergangsphase: Die Musik des späten 16. Jahrhunderts war noch geprägt von der Vokalpolyphonie der Renaissance, während die neuen Ausdrucksformen des Frühbarock bereits mit Affekt, Theatralik und Klangfarben experimentierten. In diesem Spannungsfeld formte sich ein Komponist, der wie kaum ein anderer den Stilwandel nicht nur miterlebte, sondern maßgeblich mitgestaltete.

Heute wird Heinrich Schütz als der bedeutendste deutsche Komponist des Frühbarock angesehen und gilt als Wegbereiter einer modernen Klangkultur. In der großen Komponisten- und Komponistinnentradition Sachsen-Anhalts tritt Schütz vielleicht manchmal hinter namhafte Kollegen wie Abel, Bach, Händel, Telemann oder Weill zurück, doch selbstverständlich wird auch sein Erbe hier bewahrt und ausgestellt. In Weißenfels, in seinem letzten Wohnhaus, befindet sich heute das Heinrich-Schütz-Haus – ein lebendiges Musikermuseum, das sich nicht nur seinem Leben, sondern auch dem Klang und der Kultur seiner Zeit widmet.

Der folgende Beitrag nähert sich Heinrich Schütz auf mehreren Ebenen: Er zeichnet die klangliche Welt seiner Kindheit und Jugend nach, beleuchtet seine Lehrzeit in Venedig bei Giovanni Gabrieli, verfolgt seinen künstlerischen Weg als Komponist zwischen Tradition und Innovation – und widmet sich schließlich der Frage, wie sein Werk heute weiterlebt. Dabei steht stets eines im Zentrum: der Klang seiner Zeit, der bis heute nachhallt.

Das Heinrich-Schütz-Haus in Weißenfels

Der Klang zur Zeit der Kindheit und Jugend von Heinrich Schütz

Heinrich Schütz wurde 1585 in Köstritz geboren und verbrachte ab 1590 seine Kindheit im sächsischen Weißenfels, wo sein Vater Christoph als wohlhabender Gastwirt und Ratsherr schnell zu den angesehensten Bürgern gehörte. Die Familie war musikalisch eng vernetzt: Sein Onkel Heinrich Colander war Organist an der Marienkirche und sein Vater Christoph vermutlich Mitglied der 1590 gegründeten Kantoreigesellschaft – eines Männergesangvereins mit bis zu 40 Mitgliedern, der sicherstellte, dass auch dann Musik in der Kirche zu hören war, wenn nicht genug jugendliche Stimmen zur Verfügung standen. Schütz erlebte vom Kindesalter an Musik als festen Bestandteil des Familien- und Gemeinschaftslebens.

Das musikalische Leben seiner Zeit war vielschichtig strukturiert: Im Zentrum seiner frühen Ausbildung stand die 1553 errichtete Lateinschule mit ihrem Kantor Georg Weber, einem auch als Komponist hervortretenden Musiker, bei dem Schütz vermutlich ersten Unterricht erhielt. Der Schulalltag war musikalisch durchdrungen – fünf von sechs Wochentagen begannen um 6 Uhr mit einer Singstunde, zweimal wöchentlich folgten nachmittags Musiktheoriestunden. Die Schüler prägten wesentlich das städtische Musikleben, da sie für die musikalische Gestaltung der Gottesdienste in der Kloster- und Marienkirche zuständig waren, wo es jeden dritten Sonntag und an allen Feiertagen Figuralgottesdienste mit kunstvoller geistlicher A-cappella-Musik gab.

Unterstützt wurden die Schüler dabei (vor allem an hohen Feiertagen) von den vier städtischen Stadtpfeifern, die als zünftig organisierte Beamte das Monopol für öffentliches Musizieren innerhalb der Stadtmauern besaßen. Sie spielten Dulzian, Pommer, Posaune, Zink und Streichinstrumente, machten Ratsbeschlüsse durch Fanfaren bekannt, bliesen zu bestimmten Tageszeiten Kirchenlieder vom Rathausturm und musizierten bei städtischen Umzügen, Ratswahlen sowie bei privaten Familienfeiern. Außerhalb der Stadtmauern ergänzten sogenannte fahrende Gesellen mit ihren typischen Instrumenten Drehleier und Sackpfeife das musikalische Leben bei Dorffesten und in Gasthäusern.

In dieser musikalisch allgegenwärtigen Umgebung wuchs Heinrich Schütz auf, auch wenn aus seinem frühen Alltag in Weißenfels nur wenig überliefert ist. 1599 wurde sein Talent entdeckt, als Landgraf Moritz von Hessen-Kassel im elterlichen Gasthof „Zum Goldenen Ring“ zu Gast war und den Vierzehnjährigen singen hörte. Er holte Schütz als Kapellknaben an seine Hofschule (Collegium Mauritianum) nach Kassel und ermöglichte ihm dort eine herausragende musikalische Ausbildung unter Hofkapellmeister Georg Otto.

Diese Förderung legte das Fundament für Schützens weitere Ausbildung in Italien, wo sich ihm ab 1609 in der venezianischen Schule Giovanni Gabrielis eine völlig neue Klangwelt eröffnete. Dort setzte er sich mit italienischer Madrigalkunst auseinander, erlernte die räumliche Nutzung des Kirchenraums durch strategische Anordnung von Instrumental- und Vokalensembles und entdeckte, wie besondere Klangfarben durch den eigenständigen Einsatz von Musikinstrumenten in der Vokalmusik entstehen. Während in Weißenfels Instrumentalisten hauptsächlich Vokalstimmen verstärkten oder ersetzten, lernte Schütz in Venedig, dass Instrumente völlig unabhängig von Gesangsstimmen agieren und mit diesen sogar wetteifern („konzertieren“) konnten.

Die akustische Wirkung im Markusdom mit seinen fünf Kuppeln muss eine Offenbarung für den jungen Komponisten gewesen sein. Giovanni Gabrieli, einer der renommiertesten Kompositionslehrer seiner Zeit mit Schülern aus ganz Europa, blieb zeitlebens Schützens wichtigster musikalischer Mentor. Noch 1629, in den Symphoniae sacrae I, würdigte Schütz seinen Lehrer mit den überschwänglichen Worten: „Als ich in Venedig anlegte, warf ich dort den Anker aus, wo ich als Jüngling unter dem großen Gabrieli die ersten Lehrjahre in meiner Kunst zugebracht hatte, Ach Gabrieli, Ihr unsterblichen Götter, was für ein Mann! Hätte ihn das wortreiche Altertum erlebt, so würde es ihn (um es kurz zu sagen) den Amphionen vorgezogen haben, oder hätten die Musen Vermählung gewünscht, so besäße Melpomene keinen anderen Gatten als ihn, solch ein Meister des Gesangs war er […]. Ich selbst war dessen reichlichst Zeuge, der ich ganze vier Jahre seinen vertrauten Umgang zu meinem besten Nutzen genossen habe.“ Giovanni Gabrieli bleibt zeitlebens für Heinrich Schütz der Musiker, der ihn am meisten als Pädagoge und als Komponist beeindruckt hat.

Vom venezianischen Studenten zum „Vater der modernen Musik“

1611 veröffentlichte Schütz noch in Italien sein Primo libro de Madrigali mit 18 fünfstimmigen italienischen Madrigalen und einem bemerkenswerten doppelchörigen Madrigal, das er seinem Förderer Landgraf Moritz von Hessen-Kassel widmete. Die doppelchörige Anlage war für weltliche Madrigale revolutionär, da Mehrchörigkeit bis dahin der Kirchenmusik vorbehalten war – eine kunstvolle Demonstration dessen, was Schütz in Venedig gelernt hatte.

Nach seiner Rückkehr (1612/13) wirkte er ab 1614 zunehmend am Dresdner Hof, einem der mächtigsten protestantischen Fürstenhöfe Europas. Die sächsischen Kurfürsten fungierten als Reichsmarschälle und Schutzherren des Protestantismus zugleich, was eine repräsentative Hofmusik erforderte. 1619 erschien Schützens erste große deutsche Drucksammlung, die Psalmen Davids (s. Abb.), gewidmet Kurfürst Johann Georg I. und strategisch auf dessen Hochzeit datiert. Das Werk war bahnbrechend: Erstmals wurde venezianische Mehrchörigkeit nach Deutschland gebracht und mit einer textgenauen Vertonung im „sprechenden Stil“ (stylo recitativo) verbunden.

Schützens Klangideal war räumlich konzipiert: Solisten wechselten sich mit „creutzweiß“ aufgestellten Chören ab, wodurch bis zu vier Chöre einen beeindruckenden Raumklang erzeugten. Vokalchöre wurden durch differenziert besetzte Instrumentalchöre – Streicher, Holz- oder Blechbläser – ergänzt und schufen so abwechslungsreiche Klangfarben. Diese Innovation machte ihn schnell zum „parens nostrae musicae modernae“ (Vater unserer modernen Musik).

Sein umfangreiches OEuvre umfasst sowohl groß besetzte geistliche Werke für den Gottesdienst (Symphoniae sacrae, Auferstehungs- Historie) als auch intime Kompositionen für die Privatandacht (Kleine Geistliche Konzerte, Becker-Psalter). Politische Gelegenheitswerke wie Da pacem Domine (1627) – eine doppelchörige Friedensbitte an Kaiser und Kurfürsten – zeigen Schütz als nicht unpolitischen Komponisten. Daneben entstanden kleine weltliche Madrigale und Klagegesänge für familiäre Anlässe, minimal besetzte, intime Kompositionen, die Einblick in die Gefühlswelt des ranghöchsten lutherischen Musikers seiner Zeit gewähren.

Während des Dreißigjährigen Krieges reiste Schütz viel durch Europa und holte sich bei seiner zweiten Italienreise (1628/29) neue Impulse von Claudio Monteverdi. Seine späteren Werke reflektieren diese Einflüsse, während die Kleinen Geistlichen Konzerte aus der Kriegsnot heraus für reduzierte Besetzungen entstanden.

Als musikalisches Vermächtnis vollendete Schütz um 1670 in Weißenfels seinen Schwanengesang – einen doppelchörigen Zyklus von dreizehn Motetten über Psalm 119, Psalm 100 und das deutsche Magnificat. Bewusst griff er auf den kompositorischen Stil seiner venezianischen Studienzeit zurück, obwohl dieser bereits fast hundert Jahre alt war. So wollte er die Grundlagen der Kompositionstechnik, die man ihm vermittelt hatte, für nachfolgende Generationen als Fundament neuen Komponierens bewahren.

Blick in die erste Dauerausstellung zum Leben und Wirken von Heinrich Schütz im neu eröffneten Heinrich-Schütz-Haus Weißenfels, 1985. (© Weißenfelser Musikverein „Heinrich Schütz“ e. V.)

Das musikalische Erbe von Heinrich Schütz in unserer Zeit

Apropos Bewahren: In Weißenfels, Nikolaistraße 13, erwarb Heinrich Schütz gemeinsam mit seiner ebenfalls verwitweten Schwester Justina ein Haus als Alterswohnsitz. Seit seinem 400. Geburtstag 1985 beherbergt dieses Gebäude das Heinrich-Schütz- Haus, ein Musikermuseum, das ursprünglich zur Bach-Händel-Schütz-Ehrung der DDR eröffnet wurde.

Die 2012 grundlegend erneuerte Dauerausstellung markierte einen Paradigmenwechsel: Während die erste Ausstellung (1985–2009) primär auf „Persönlichkeiten des Weißenfelser Kultur- und Musiklebens“ fokussierte und hauptsächlich informativ ausgerichtet war, konzentriert sich die neue Konzeption auf Schützens Lebensstationen, sein musikalisches Schaffen und die Klangwelt der Kasseler, Dresdner und Kopenhagener Hofkapellen. Besonders innovative Elemente sind die „Schütz-Sofas“ mit liebevoll gestalteten Hörspielen in deutscher und englischer Sprache für Erwachsene sowie deutschen Kinderhörspielen, die den durch mangelnde private Quellen schwer fassbaren Menschen Schütz lebendig werden lassen. Eine 2021 entwickelte WebApp erweitert diese persönliche Annäherung (s. dazu die Verlinkung über den QR-Code).

Die moderne Ausstellung setzt konsequent auf Interaktivität und multisensorische Vermittlung: Ein spezieller Kinderpfad mit Objekten zum Anfassen macht die Alltagswelt des 16./17. Jahrhunderts begreifbar, während ein vierseitiges „singendes Notenpult“ Besucher zum Mitsingen von Schütz-Sätzen aus dem Becker-Psalter und den Zwölf Geistlichen Gesängen einlädt. Drei Animationsfilme erläutern die Rolle der Musik in Schule und Kirche, den damaligen Musikunterricht sowie Schützens venezianische Kompositionstechnik.

Ein besonderes Highlight bildet die 2011 rekonstruierte Komponierstube im Dachgeschoss, wo zwei bei Restaurierungsarbeiten (1985 und 2010) entdeckte Autographenfragmente gezeigt werden. Hier wird auch Schützens Lebensmotto „Gott, deine Rechte sind mein Lied in meinem Hause“ (Psalm 119, Vers 54) aus seinem letzten Werk, dem Schwanengesang, akustisch inszeniert – Besucher können dem Komponisten beim Vertonen dieses Verses „zuhören“.

Das Museum hält Schützens Klangwelt bewusst lebendig, obwohl – oder gerade weil – diese Musik den meisten Menschen des 21. Jahrhunderts fremd erscheinen mag. Zwar ist ihre Klangsprache nicht mehr unmittelbar verständlich, doch die kulturellen und gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen seiner Werke zeigen durchaus Parallelen zur Gegenwart auf. Musik funktioniert schließlich immer als Kulturphänomen: Vom Glockengeläut mit seinen liturgischen Wurzeln über die individuelle oder kollektive Selbstdarstellung durch Gesang bis hin zur Konkurrenz um Publikumsgunst zwischen Opernstars und Instrumentalvirtuosen trägt jeder Klang kulturelle Bedeutung.

Heute lebt Schützens Musik vorrangig in Chören und spezialisierten Vokalensembles für Alte Musik weiter. Doch auch Laienmusiker können sich seiner Klangwelt mühelos nähern, wenn sie sich an Werke des 17. Jahrhunderts heranwagen. Die Freude am gemeinschaftlichen Klangerlebnis wird sie dabei mehr als reichlich belohnen.