
Landesheimatbund Sachsen-Anhalt. Foto: M. Behne, lautwieleise.de
Artikel
Heute Frauenrecht – Der Grasedanz in Hüttenrode (Harz)
Es ist das erste Wochenende im August, Sonntag 2022. In Hüttenrode bei Blankenburg herrscht Ausnahmezustand. Das ganze Wochenende lang gilt Frauenrecht. Doch was bedeutet das? Die Frauen und Mädchen bestimmen an diesem Wochenende das Geschehen im Dorf und sind vier Tage lang die Hauptpersonen.

Landesheimatbund Sachsen-Anhalt. Foto: M. Behne, lautwieleise.de
Die frisch gekürte Grasekönigin Kim Fischer an der Spitze des Festumzugs
Am Sonntagmorgen um 10 Uhr beginnt der wichtigste Teil des mehrtägigen Festes. Aus allen Ecken des Dorfes kommen junge Frauen und Mädchen zum „Meine“ genannten Festplatz. Auf ihren Rücken haben sie mit Heu gefüllte Tragekörbe, üppig geschmückt mit Wild- und Gartenblumen, Gräsern und Schilf. Dort werden sie von Frau Hauptmann, der Chefin des Grasedanz-Komitees – seit 2011 hat dieses Amt Kathrin Kunzelmann inne –, und anderen erfahrenen Grasefrauen erwartet. Das Heu aus den Kiepen wird auf der großen Festwiese ausgeleert und der Blumenschmuck auf die jeweiligen Heuhaufen abgelegt.

Landesheimatbund Sachsen-Anhalt. Foto: M. Behne, lautwieleise.de
Am Morgen des Festsonntages bringen Frauen und Mädchen Heu in mit Blumen geschmückten Tragekörben zum Festplatz.
Nun wird es spannend. Das Los entscheidet, wer in diesem Jahr Grasekönigin und wer Heuprinzessin wird. Jede der Frauen und Mädchen, die einen Heukorb zum Festplatz gebracht hat, kann ein Los ziehen. Die Grasekönigin sollte mindestens 18 Jahre alt sein und in Hüttenrode wohnen. An der Wahl zur Heuprinzessin können alle Mädchen des Ortes, die schon zur Schule gehen, teilnehmen. Die Heuprinzessin wird erst seit 1995 ausgelost. Davor gab es nur die Grasekönigin. Frau Hauptmann verkündet den anwesenden Gästen die Namen der frisch gewählten Hoheiten. Die Grasekönigin des Vorjahres übergibt Schärpe und Krone an ihre Nachfolgerin, so wie kurz vorher die Heuprinzessinnen ihre Insignien ausgetauscht haben. Damit geht der erste Teil des Sonntagsprogramms zu Ende.

Landesheimatbund Sachsen-Anhalt. Foto: M. Behne, lautwieleise.de
Bei der Auslosung von Grasekönigin und Heuprinzessin.
Um 13 Uhr beginnt der große Festumzug an der Gaststätte „Deutsches Haus“ mitten im Ort. Dort treffen sich die Grasefrauen, die erneut einen frisch mit Heu befüllten und mit Blumen geschmückten Korb mitbringen. Andere Frauen tragen einen mit Eichenlaub, Ebereschen und Wildkräutern geschmückten, Pike genannten Kranz an einem langen Stab. Wieder andere haben reich mit Blumen und Kräutern verzierte Harken, Holzrechen, die für die Heuernte benötigt werden, dabei.

Landesheimatbund Sachsen-Anhalt. Foto: M. Behne, lautwieleise.de
Die Grasedanzfrauen mit geschmückten Körben, Kränzen und Fahne.
Frau Hauptmann trägt eine mit Blumen geschmückte Sichel als Zeichen ihrer Würde. Die Grasefrauen haben nun ihre vielfarbigen, bayrischen Dirndln ähnelnden Kleider, die sie am Morgen getragen haben, durch die vereinheitlichte Hüttenröder Grasedanz-Tracht ersetzt. Diese wurde, laut Information durch die befragten Ortschronistinnen, nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt und über die Jahre zur Tradition. Die Tracht besteht aus einem schwarzgrün gestreiften Rock, einer weißen Bluse mit Puffärmeln, einer schwarzen Weste und einer weißen, mit Blumen und Zweigen bestickten Schürze. Um die Schultern wird ein weißes, mit Blumenmotiven bedrucktes Tuch getragen. Darüber wird eine grün-silber betresste Schärpe gelegt. Außerdem tragen die Frauen weiße Söckchen und schwarze Schuhe. Diese Zusammenstellung orientiert sich dabei an den Vorlagen, die der Harzklub und Landesfremdenverkehrsverband Harz 1934 als Einheitstracht für die Region entwickelte.

Landesheimatbund Sachsen-Anhalt. Foto: M. Behne, lautwieleise.de
Frau Hauptmann ausgestattet mit ihrer Sichel führt den Umzug an.
Mehrere Blaskapellen und Spielmannszüge warten vor dem Restaurant „Deutsches Haus“ auf ihren Einsatz. Ob nur ein Spielmannszug oder mehrere auftreten, ist davon abhängig, so die Auskunft der Ortschronistinnen, wie viel Geld für das Fest zur Verfügung steht. Dort haben sich auch Einwohnerinnen und Einwohner Hüttenrodes, Vertreterinnen und Vertreter der verschiedenen, ortsansässigen Vereine sowie jede Menge Schaulustige und Gäste von außerhalb eingefunden. Auch eine Delegation der Grasedanzfrauen aus Neuwerk ist gekommen. Um 13 Uhr verlassen die Grasefrauen mit ihren Körben das Gasthaus. Frau Hauptmann fordert den Bürgermeister zu einem Tanz auf dem Vorplatz auf. Denn Frauenrecht bedeutet, die Frauen fordern an diesem Wochenende die Männer zum Tanz.
Im Anschluss an den Eröffnungstanz setzt sich der Zug in Bewegung. Angeführt wird er von der Frau Hauptmann mit der Sichel in der Hand. Ihr folgen die Frauen und Mädchen mit den mit Blumen geschmückten Kiepen, Piken und Harken. Von Frau Hauptmann wird im Vorfeld des Umzuges die Positionen der Grasefrauen im Zug, die Kleidung und wer welche Attribute tragen wird, genau festgelegt. Zu Korbträgerinnen werden diejenigen bestimmt, die schon am längsten dabei sind. Die Harkenträgerinnen bilden den Abschluss der Gruppe. In diesem Jahr sind es sechs große und sechs kleine Körbe, die abwechselnd mit Piken in Dreierreihen ziehen. Zwischen diesen beiden Reihen läuft die Trägerin der Grasedanzfahne.
Nach den Grasefrauen reihen sich die Vereine des Ortes, Einwohner und Gäste ein. Auch die weiteren Kapellen beziehungsweise Spielmannszüge haben im Festumzug einen Platz.

Landesheimatbund Sachsen-Anhalt. Foto: M. Behne, lautwieleise.de
Eine Blaskapelle beim Umzug durch Hüttenrode.
Der erste Halt des Zuges ist am Haus der neuen Grasekönigin, um diese abzuholen. Im Umzug wird sie dann von den beiden Graseköniginnen der letzten beiden Jahre – eine rechts, eine links – begleitet. Danach wird die Heuprinzessin abgeholt. Anschließend zieht der Zug mit viel Musik durch das ganze Dorf. Das kann bis zu eineinhalb Stunden dauern.

Landesheimatbund Sachsen-Anhalt. Foto: M. Behne, lautwieleise.de
Die Grasedanzkönigin wird daheim abgeholt.
Der Umzug endet am Festplatz. Im großen Festzelt ist für das Kaffeetrinken alles vorbereitet. Die Frauen des Harzklub Zweigvereins und viele Helferinnen haben Kuchen gebacken, der auf mehreren Tischen angeboten wird. Thermoskannen mit Kaffee stehen bereit. Die Besucherinnen und Besucher können an den Tischen im Festzelt Platz nehmen. Um 16 Uhr ruft Frau Hauptmann unter Zuhilfenahme eines alten Kochtopfes und eines Hammers alle Anwesenden zur Heuversteigerung auf den Festplatz. Die Zuschauerinnen und Zuschauer verteilen sich halbkreisförmig rund um die am Morgen vorbereiteten Heuhaufen.
Frau Hauptmann eröffnet die Heuversteigerung mit einer Rede. Darin schildert sie die herausragende Güte dieses „ganz besonderen Heus“ und die „Mühsal der Heuernte“. Seit Jahren wird die gleiche Rede in Hüttenroder Mundart gehalten, bezeugen die Grasefrauen, doch ihr Ursprung ist nicht mehr bekannt.
Die Heuversteigerung verläuft nach folgenden Regeln: Jeder Heuhaufen wird einzeln versteigert. Der Bieter zahlt die Differenz zwischen dem letzten und dem neuen Gebot. Dabei versucht Frau Hauptmann die Gebote in die Höhe zu treiben. Hat ein Heuhaufen einen Käufer gefunden, nimmt die Grasekönigin eine Blume aus dem Schmuck dieses Haufens, steckt sie dem Käufer ins Knopfloch und bittet ihn zum Tanz. Die Kapelle beginnt ein Stück zu spielen, bis der Käufer die Heukönigin sanft auf den Heuhaufen fallen lässt, ohne sie dabei loszulassen. In diesem Moment endet das Musikstück. Dieses Prozedere wird mit jedem Heuhaufen durchgeführt, bis alle Haufen versteigert sind.

Landesheimatbund Sachsen-Anhalt. Foto: M. Behne, lautwieleise.de
Die Grasekönigin lässt sich nach dem Tanz auf dem symbolisch ersteigerten Heuhaufen fallen.
Der Clou der Heuversteigerung ist jedoch, dass keiner der Käufer – in der Regel sind es Männer, aber hin und wieder bieten auch Frauen für einen Haufen Heu – seinen Heuhaufen mit nach Hause nehmen kann. Am Ende wird ein großer Haufen geformt und dieser wird noch einmal versteigert. Nach der Versteigerung ziehen Frau Hauptmann, die Grasekönigin und alle Grasefrauen gemeinsam mit den Heukäufern zum Festzelt, wo ordentlich bei Bier und Tanzmusik gefeiert wird. Am frühen Abend nehmen die Grasefrauen wieder ihre Körbe, Piken und Harken und ziehen, begleitet von einer Blaskapelle, zurück ins Dorf. Die Königin und die Heuprinzessin werden nach Hause gebracht, wo der Vater oder Ehemann schon mit Schnaps und Gläsern auf den Zug wartet. Sie erhalten noch ein Ständchen von der Blaskapelle. Die Grasefrauen nutzen die kurze Pause bis zum Abend zum Duschen und Umziehen und auch um kurz auszuruhen. Denn, so erzählten es die Ortschronistinnen und erfahrenen Grasedanzteilnehmerinnen, das Fest ist anstrengend. Am Abend gibt es dann noch Party mit Musik und Tanz im Festzelt.
Vier Tage lang feiern
Der gerade geschilderte Sonntag ist der wichtigste Festtag beim Grasedanz. Der Festzyklus beginnt allerdings bereits am Freitagabend. Dann treffen sich die Grasefrauen, um die Kränze und Girlanden aus Eichenlaub zu binden und die Piken mit Ebereschenzweigen und Wildkräutern zu verzieren. Die Girlanden werden dann später gemeinsam mit dem Schild „Heute Frauenrecht“, auf dem eine stolze Frau ihre Sichel in die Höhe hält, den Eingang zum Festplatz zieren. Die Harken bekommen ihren Blütenschmuck dann am Samstag. Die Blumenkörbe werden erst am Sonntagmorgen vorbereitet, um die Blumenpracht frisch zu halten.

Landesheimatbund Sachsen-Anhalt. Foto: M. Behne, lautwieleise.de
Das mit Girlanden aus Eichenlaub geschmückte Schild „Heute Frauenrecht“.
Der Samstag ist ganz den Vorbereitungen gewidmet. Eine Gruppe von Männern, Mitglieder des Harzklubs oder die Ehemänner der Grasefrauen, treffen sich morgens um 7 Uhr, um gemeinsam in den Wald zu fahren und Birkenzweige zu holen. Heute werden dazu gern wieder Pferdefuhrwerke benutzt. In der Vergangenheit waren auch Traktoren im Einsatz. Ab 14 Uhr werden die Birkenzweige in Begleitung einer Musikkapelle im Ort ausgefahren. Jedes Haus wird mit dem frischen Birkengrün geschmückt. Ursprünglich wurden die Birken Vereinsmitgliedern und Helfern als Dankeschön vor das Haus gestellt. Mittlerweile wird jedes Haus so geschmückt. In der Zwischenzeit sind die Grasefrauen zur Bode gefahren, um Schilf, Farn und Wildblumen zu sammeln, die sie dann für den Blumenschmuck ihrer Körbe verwenden. Mit dabei ist ein Picknickkorb für ein großes Frühstück. Die Wildpflanzen, z. B. Goldrute und Weidenröschen, werden dann mit prächtigen Gartenblumen wie Gladiolen, Zinnien, Mädchenauge, Fuchsschwanz, Dahlien, Chrysanthemen und vielen mehr ergänzt. Am Samstagabend ist dann das erste Mal Tanz im Festzelt, natürlich mit Damenwahl!

Landesheimatbund Sachsen-Anhalt. Foto: M. Behne, lautwieleise.de
Frisch geschnittene Birken werden in den letzten Jahren wieder mit Kremser im Dorf verteilt.
Geschichte des Grasedanzes
Am Montag wird ein letztes Mal gefeiert. Hier geht es etwas privater zu, da nun hauptsächlich noch Hüttenröder beteiligt sind. Man trifft sich am Morgen im Festzelt zum „Hackelsfrühstück“. Rohes, gewürztes Schweinehackfleisch wird mit Brötchen, Senf und sauren Gurken gegessen. Dazu gibt es Bier und Blasmusik. Die Grasefrauen haben ihre Körbe noch einmal geschmückt und der Umzug wird noch einmal wiederholt: man trifft sich am „Deutschen Haus“, es ist wieder eine Musikkapelle dabei, der Zug holt die Grasekönigin ab und das ganze Dorf wird noch einmal begangen. Danach wird die Königin nach Hause gebracht, wo bereits alles für das Kaffeetrinken vorbereitet ist. Die Familie und Freunde haben Kuchen gebacken und Kaffee gekocht, auf der Straße vor dem Haus sind Bänke und Tische aufgestellt. Ist der Kuchen aufgegessen und der Kaffee ausgetrunken, zieht die gesamte Gruppe noch einmal mit Körben, Harken, Piken und Musik zum Festplatz. Montagnachmittag stehen dann die Kinder im Mittelpunkt. Es gibt Kindertanz. Diese Tradition gab es wohl schon vor dem Zweiten Weltkrieg. Zum Abschluss des Festes am Montagabend dankt Frau Hauptmann allen, die beim Fest mitgeholfen haben, die die vielen kleinen und großen Aufgaben übernommen und das Fest zum Erfolg gebracht haben. Ein letztes Mal startet der Umzug durch das Dorf. Mit Musik werden die Grasekönigin und die Heuprinzessin nach Hause gebracht, am Abend wird zum letzten Mal für diese Saison zum Tanz ins Festzelt geladen. Dann ist der Grasedanz erst einmal vorbei.
So oder so ähnlich wird er seit nunmehr 137 Jahren gefeiert, obwohl es Zweifel gibt, wann der erste Grasedanz stattfand. Die erste gesicherte Erwähnung gibt es erst für das Jahr 1887. Offiziell wurde 2022 der 137. Grasedanz begangen. Lutz Wille erwähnt in seinem Text „Der Grasedanz. Ursprung, Verbreitung, Alter“, dass 1937 das 50. Jubiläum des Grasedanzes gefeiert wurde. Auf dieses Datum bezog man sich auch 1987, als man die neue Fahne anfertigte und das 100. Jubiläum feierte.
Initiiert wurde er einst wohl von zwei Frauen aus Hüttenrode, die das Fest in Altenbrak besucht hatten, wo es bereits für das Jahr 1865 belegt ist. Auch in Treseburg wurde zu dieser Zeit wohl ein ähnliches Fest gefeiert. Der neben Hüttenrode heute noch existierende Grasedanz in Neuwerk ist schriftlich erstmals ebenfalls für das Jahr 1887 belegt.

Landesheimatbund Sachsen-Anhalt. Foto: M. Behne, lautwieleise.de
Die mit Blumen geschmückten Körbe erinnern an die Futterversorgung und Heuernte, um die sich insbesondere Frauen kümmerten.
Wie eindeutig aus den Schilderungen zu entnehmen, ist der Grasedanz ein Fest der Frauen. Sie spielten für die Eigenversorgung der Familien eine große Rolle. Hüttenrode war immer ein Dorf von Bergleuten, Waldarbeitern, Handwerkern und Landwirten. „Die Frauen und Töchter der Berg- und Hüttenleute waren auf geschlechtsspezifische Weise in den vom Bergbau beherrschten Arbeitsalltag und die traditionellen Formen der Reproduktion und existenziellen Sicherung der Familie eingespannt.“ Gartenbau, Milchviehhaltung und Wiesenkultur lag voranging in den Händen der Frauen, die mit Unterstützung der Kinder das Heu einfuhren, Dung auf die kargen Felder brachten, die Kühe fütterten und molken und Eigenprodukte wie Magerkäse oder Strickwaren herstellten und vermarkteten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam noch gelegentlich das Vermieten von „Fremdenzimmern“ dazu. Durch ihre Nebenerwerbstätigkeit stärkten die Bergmannsfrauen ihre soziale Stellung gegenüber ihren Ehemännern. Die Anbauflächen für Feldfrüchte waren sehr begrenzt, dagegen dominierten die Bergwiesen das Landschaftsbild. „Die Wiesen, die nur im Frühjahr für kurze Zeit beweidet wurden, lieferten wertvolles Winterfutter für die Rinderhaltung. Die Wiesenkultur lag zum großen Teil in den Händen der Bergmannsfrauen oder der älteren Kinder. Wiesen waren eine begehrte Mitgift oder Altenteilssicherung.“ Sie waren kleine Kapitalanlagen, die verpachtet oder als Sicherheit an Frauen und Kinder vererbt wurden. Die Frauen waren auch besonders aktiv beim Erwerb beziehungsweise beim Weiterverkauf von Wiesen.
Die Frauen und Mädchen holten das Gras im Tragekorb von den Bergwiesen für ihre Kühe und Ziegen als Futter. Sie trockneten das Gras an den Straßenrändern im Ort, um es dann in den Scheunen einzulagern. Das mit vielen Wildkräutern angereicherte Heu war im Harzer Vorland bei den Bauern beliebt, weshalb es die Frauen auch in ihren Tragekörben ins Vorland trugen und dort verkauften. Der Grasedanz war dann der Abschluss der erfolgreichen Heuernte. Die dafür nötigen Arbeitsgeräte und Hilfsmittel wurden beim Fest mit Blumen geschmückt und stolz mitgeführt.

Landesheimatbund Sachsen-Anhalt. Foto: M. Behne, lautwieleise.de
Die mit Heu und mit Blumen bestückten Körbe werden dann von den Grasedanzfrauen im Umzug getragen. Die einheitliche Grasedanz-Tracht wurde nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt, orientiert sich dabei aber an einer Vorlage von 1934.
Den Ablauf, so wird angenommen, orientierten die Initiatorinnen eng an dem des Schützenfestes: die Wahl der Grasekönigin, die Kaffeetafel der Königin für ihr Gefolge, der Kindertanz, und, nicht zu vergessen, die wichtigste Person beim Grasedanz, die Frau Hauptmann. Sie führt, in Anlehnung an den Titel „Schützenhauptmann“ bzw. „Berghauptmann“ im Bergverein, das „Regiment“ beim Fest. Sie ordnet den Zug und ist für die Einhaltung der überlieferten Bräuche und Traditionen zuständig. Das Schützenwesen kann im Harz auf eine Jahrhunderte alte Tradition zurückblicken. Erste Schützenbruderschaften sind in Halberstadt für 1316, in Quedlinburg für 1351 und in Wernigerode für 1451 überliefert. Schützenfeste waren deshalb weit verbreitet. Wichtiger Bestandteil waren die Schützenaufzüge, mit denen besonders verdiente Bürger geehrt wurden: der Schützenmeister, der Bürgermeister, die Ratsherren und der Schützenkönig. Sie wurden abgeholt und nach dem Fest wieder nach Hause gebracht. Für den Schützenaufzug gab es eine feste Reihenfolge: erst die Musiker, dann die Fahnenträger, dann der Schützenmeister und nach ihm der Schützenkönig und die Schützen. Der Zug führte durch den festlich mit Birken- und Tannengrün geschmückten Ort zum Schützenplatz. Auch die Schützenfeste dauerten drei Tage. Die Parallelen zum Grasedanz sind deutlich, wenn auch das Schützenfest eine Angelegenheit der Männer war. Andreas Pawel und der langjährige Hüttenröder Ortschronist Günther Stöckicht haben vermutet, dass die ersten Grasedanzfrauen als Ehefrauen aktiver Schützen ein adäquates Fest für Frauen etablieren wollten, wobei sie von ihren Ehemännern bei der Organisation und Ausgestaltung des Festes unterstützt wurden. Diese Vermutung wird nun im Grasedanz-Narrativ vor Ort tradiert, durch Quellen belegt ist es nicht.
Zwischen 1940 und 1949, also während des Zweiten Weltkriegs und unmittelbar danach, wurde der Grasedanz nicht gefeiert. Seit 1950 ist er wieder fester Bestandteil des Jahreslaufes in Hüttenrode. Hans Bauerfeind, Direktor des Blankenburger Museums und ausgebildeter Volkskundler, überredete 1950 die Hüttenröder Grasedanzfrauen, bei einem Festumzug in Blankenburg mit geschmückten Körben und allen weiteren Grasedanz-Utensilien dabei zu sein. Das Amt der Frau Hauptmann übernahm dafür die letzte Frau Hauptmann aus der Zeit vor dem Krieg. Als Reaktion auf den Festumzug wurde beschlossen, den Grasedanz wieder aufleben zu lassen.
Da die Organisation des Festes unter staatliche Kontrolle gebracht werden musste und der Harzklub in der DDR 1949 verboten wurde, übernahm der „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ die Leitung. In den ersten Jahren hatten es die Organisatoren nicht leicht. Jedes Jahr musste erneut bei der SED-Kreisleitung in Wernigerode um Erlaubnis gerungen werden. Außerdem wurde von staatlicher Seite aus versucht, dem Fest einen sozialistischen Anstrich zu verpassen. So wurde vorgeschlagen, in die Rede der Frau Hauptmann eine „Würdigung der sozialistischen Produktionsverhältnisse in der Landwirtschaft“ aufzunehmen. Später dann stellten die volkseigenen Betriebe und die Gemeindeverwaltung Personal für die Organisation frei und beteiligten sich an den Kosten. Beides bestätigt Marina Moritz in ihrem Begleitheft zur Fotoausstellung „Verordneter Frohsinn. Volksfeste in der DDR“.

Landesheimatbund Sachsen-Anhalt. Foto: M. Behne, lautwieleise.de
Der Umzug durch Hüttenrode 2022: Im 20. Jahrhundert wurde er immer wieder als politisch-ideologische Bühne instrumentalisiert.
Laut Moritz setzte Mitte der 1970er-Jahre in der DDR ein regelrechter Boom an Volksfesten ein. Insbesondere regionale oder lokale Traditionsfeste „knüpften bewußt an tatsächliche oder fiktive Traditionen regionaler (vornehmlich vorindustriell ländlicher) Volkskultur, an überlieferte Festgewohnheiten und Bräuche an und suchten sie unter Hinzufügung zeitbedingter Neuerungen zu revitalisieren.“ Grund dafür war, dass Volksfeste in dieser Zeit von Seiten der staatlichen Kulturpolitik entdeckt und großzügig gefördert wurden. Laut Moritz stand dahinter ein neues Verständnis von Erbe und Tradition. Das „volkskulturelle Erbe“ der „werktätigen Klassen und Schichten“ gewann an Bedeutung. Es wurde erschlossen, gepflegt und verbreitet.
Moritz schreibt dazu: „Im Juni 1971 beschloß die SED auf ihrem VIII. Parteitag die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, was mit der Konsolidierung einer sozialistischen (DDR-)deutschen Nation einhergehen sollte. Die Entwicklung und weitere Ausprägung eines sozialistischen Nationalbewußtseins ihrer Bürger wurde somit zu einer vordringlichen Aufgabe. Besondere Wirkungsmöglichkeiten bekam dabei das volkskulturelle Erbe zugesprochen. Es hatte freilich von dem gereinigt zu sein, was als regressiv und damit dem Sozialismus als nicht angemessen galt. Über eine zielgerichtete Wieder- und Neubelebung volkskultureller Traditionen regionalen und lokalen Zuschnitts versprach man sich eine tiefere rationale und vor allem emotionale Bindung der Menschen an ihren Lebensraum und dadurch die Ausbildung von Nationalbewußtsein, Nationalstolz und staatsbürgerlicher Haltung, kurzum: einen identitätsstiftenden Einfluß in kultureller und [Herv. im Orig.] nationaler Beziehung und damit letztendlich eine Stabilisierung des bestehenden Systems.“
Konsequenterweise wurde den Hüttenröder Grasefrauen nahegelegt, die „Grasekönigin“ durch eine „Grasmaid“ zu ersetzen. Das Ansinnen konnte sich allerdings nicht durchsetzen. Ab der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre wurde der Hüttenröder Kulturbund-Gruppe der Dorfklub Hüttenrode, der dem Bürgermeister und somit der SED unterstand, zur Seite gestellt, was Genehmigungen, insbesondere im Hinblick auf die gastronomische Versorgung, Bereitstellung von Strom, Genehmigung von Vertragstexten und Musikzusammenstellung erleichterte. Dass Volksfeste wie der Hüttenröder Grasedanz auch während der DDR-Zeit äußerst beliebt waren, erklärt Moritz damit, dass sie zum einen eine große emotionale Lücke füllten, und zum anderen halfen, eine selbstbestimmte kulturelle Identität zu entwickeln. Das Zurückgreifen auf das regionale, volkskulturelle Erbe war nach Moritz Ausdruck eines wachsenden Unbehagens an verordneter Kulturpolitik und staatlichem Zentralismus zugunsten des Regionalen.

Landesheimatbund Sachsen-Anhalt. Foto: M. Behne, lautwieleise.de
Für die Jüngeren: Die Auslosung der Heuprinzessin findet seit 1995 statt.
Die Hüttenröder ließen sich ihr Fest nicht vereinnahmen, sondern setzten ihm ihre persönliche Prägung auf. Der örtliche Kulturbundvertreter war dabei eine große Hilfe. Viele Aspekte des Festes, die heute als Tradition gelten, haben sich im Verlauf der DDR- Zeit herausgebildet, zum Beispiel die einheitliche Tracht. Aufgrund der Mangelsituation war diese das wertvollste Gut, wurde weitervererbt oder verborgt. Es war schwierig, neue Röcke, Blusen, Schürzen oder Tücher zu bekommen. Der Stoff musste besorgt und dann die Tracht genäht bzw. die Schürzen bestickt werden. Heute sei es leichter, die Materialien zu beschaffen. Die Schwierigkeit bestehe nun darin, eine Schneiderin zu finden.
Obwohl der Grasedanz seit etwa 70 Jahren annähernd mit gleichem Ablauf gefeiert wird, handelt es sich nicht um einen starren Brauch, sondern um ein äußerst lebendiges Fest, das nicht umsonst 2020 Eingang in die Bundesliste des Immateriellen Kulturerbes fand. Nun heißt es, das Fest für die nachwachsenden Frauen und Mädchen zu erhalten. Ein erster Schritt war 1995 die Einführung des Titels der Heuprinzessin, um schon jüngere Mädchen für den Grasedanz zu begeistern. Es scheint zu klappen.
Teilnehmende Beobachtung
… ist eine wissenschaftliche Methode, die insbesondere bei der Feldforschung eingesetzt wird. Dabei nimmt der Beobachter aktiv am untersuchten Geschehen teil. Von Vorteil ist, dass Vorkenntnisse nicht unbedingt nötig sind. Von Nachteil ist die mangelnde Überprüfbarkeit der Daten und die Schwierigkeit, die Beobachtungssituation zu wiederholen. Zu beachten ist auch, dass der Beobachter/die Beobachterin durch seine Anwesenheit die Beobachtungssituation in gewisser Weise beeinflusst und damit eine „Objektivität“ verhindert.
Feldforschung
… ist die „Forschung vor Ort“, „im Gelände“. Bei der Feldforschung soll die „unveränderte und unbeeinflusste Situation“ studiert werden. Der Forscher hält sich dafür idealer weise für einen längeren Zeitraum in einer Gemeinschaft auf und nimmt an ihrem Leben teil.
-
1)
Grundlage des Textes ist die teilnehmende Beobachtung der Autorin während des Grasedanzes am 7. August 2022. Die Ergebnisse wurden am 16. November 2022 in einem Gespräch mit Kathrin Kunzelmann, der seit 2011 amtierenden Frau Hauptmann, und den drei Ortschronistinnen Christina Meinecke, Arnie Arndt und Ingrid Ristau überprüft und durch weitere Informationen vertieft. Ergänzt wird der Text mit Passagen aus Publikationen des Bergvereins zu Hüttenrode e. V. und der Gemeinde Hüttenrode sowie Literaturrecherchen.
-
2)
Im Niederdeutschen heißt die Gemeinde meist „Gemeine“ und die Kurzform dazu ist „Meine“. In Flurnamen bedeutet es „Gemeindebesitz“ bzw. „Besitz der gesamten Einwohner eines Ortes“, also auch der Platz, auf dem gefeiert wird (Information per E–Mail von Dr. Ulrich Wenner, Mitglied im Arbeitskreis Sprache und Flurnamen des Landesheimatbundes Sachsen–Anhalt e. V., 14.12.2022).
-
3)
Vgl. Lutz Wille: Volks–und Berufstrachten aus dem Harzgebiet. Clausthal–Zellerfeld 2006, S. 80.
-
4)
2022 musste sich Kathrin Kunzelmann wegen einer Knieverletzung vertreten lassen. Sie nahm am Umzug nicht teil. Alle anderen Aufgaben der Frau Hauptmann hat sie jedoch wahrgenommen.
-
5)
Dabei handelt es sich um die „neue“ Fahne von 1987, die zum hundertjährigen Jubiläum angefertigt wurde. Sie hat die Aufschrift „Heute Frauenrecht“ und auf der Rückseite: „Hüttenröder Grasedanz 1887 – 100 – 1987“. Sie besteht aus grünem Samt und ist mit silbernen Buchstaben bestickt. Vgl. Andreas Pawel, Günther Stöckicht: Ein Blick hinter die Kulissen. In: Andreas Pawel, Günther Stöckicht, Christine Kinsky: Traditionen, Tanz und Trachten. Das Buch zum Hüttenröder Grasedanz. (Hüttenröder Edition 5). Hüttenrode 2013, S. 71.
-
6)
Die Grasedanzfrauen sind im Harzklub Zweigverein Hüttenrode e. V. organisiert. Aktuell sind 44 Frauen und Mädchen aktiv am Grasedanz beteiligt. Daneben gibt es noch den Bergverein zu Hüttenrode e. V., den Hüttenröder Skiverein, die Freiwillige Feuerwehr, den Reit-und Fahrverein Hüttenrode e. V., den Sportverein „Glück Auf“ Hüttenrode e. V., den Hüttenröder Anglerverein e. V., den Taubenverein und einen Hundesportverein.
-
7)
Vgl. Christine Kinsky: Achtung – Präsentiert die Sichel! Das Fest. In: Pawel, Stöckicht, Kinsky: Traditionen, S. 23–34, hier: 28.
-
8)
Vgl. Pawel, Stöckicht, Kinsky: Traditionen, S. 76.
-
9)
Für diesen Abschnitt vgl. Kinsky: Achtung —Präsentiert die Sichel!, S. 31–32.
-
10)
Vgl. ebd., S. 32–33.
-
11)
Vgl. Lutz Wille: Der Grasedanz. Ursprung, Verbreitung, Alter. In: Unser Harz. Zeitschrift für Heimatgeschichte, Brauchtum und Natur 55 (2005), H. 7, S. 124.
-
12)
Ebd., S. 123–124.
-
13)
Johannes Laufer: Lebenswelten und Lebenswege in den Oberharzer Bergstädten. Alltag und soziale Verhältnisse des Bergvolks im 19. Jahrhundert. Hannover 2010, S. 314.
-
14)
Ebd.
-
15)
Vgl. ebd., S. 333.
-
16)
Vgl. ebd., S. 189.
-
17)
Ebd., S. 190.
-
18)
Information von den Ortschronistinnen von Hüttenrode. Vgl. Anm. 1.
-
19)
Vgl. Kinsky: Achtung – Präsentiert die Sichel!, S. 26.
-
20)
Vgl. ebd; Pawel, Stöckicht: Blick hinter die Kulissen, S. 62.
-
21)
Vgl. Lothar Wehr: Schützenfeste im Harz. In: Folkloristische Überlieferungen und Volksfeste heute. (Wissenschaftliche Beiträge 17), Leipzig 1987, S. 78–79.
-
22)
Ebd., S. 81.
-
23)
Ebd., S. 83.
-
24)
Vgl. Pawel, Stöckicht: Blick hinter die Kulissen, S. 63, Pawel: Viel Steine, S. 15.
-
25)
Vgl. Pawel, Stöckicht: Blick hinter die Kulissen, S. 64.
-
26)
Der Kulturbund übernahm sowohl die Mitglieder des Harzclubs als auch seine Aufgaben. Vgl. Pawel, Stöckicht: Blick hinter die Kulissen, S. 64.
-
27)
Vgl. ebd., S. 66.
-
28)
Ebd., S. 71.
-
29)
Vgl. Marina Moritz: Verordneter Frohsinn. Volksfeste in der DDR. Begleitheft zur gleichnamigen Ausstellung im Museum für Thüringer Volkskunde Erfurt. Erfurt 1996, hier besonders: 6.
-
30)
Ebd., S. 3.
-
31)
Ebd.
-
32)
Moritz: Verordneter Frohsinn, S. 4.
-
33)
Diese Information verdankt die Autorin den Ortschronistinnen.
-
34)
Vgl. Pawel, Stöckicht: Blick hinter die Kulissen, S. 70.
-
35)
Vgl. Moritz: Verordneter Frohsinn, S. 7.
-
36)
Ebd.
-
37)
Information der Ortschronistinnen an die Autorin.
-
38)
Vgl. Deutsche UNESCO Kommission: Grasedanz. In: www.UNESCO.de, 2020, URL: https://www.unesco.de/kultur–und–natur/immaterielles–kulturerbe/immaterielles–kulturerbe–deutschland/grasedanz (13.03.2023).
-
39)
Vgl. Bettina Beer: Teilnehmende/systematische Beobachtung. In: Wörterbuch der Völkerkunde. Begründet von Walter Hirschberg. Grundlegend überarbeitete und erweiterte Neuausgabe. Berlin 1999, S. 45. Für eine ausführlichere Diskussion vgl. Christian Lüders: Beobachten im Feld und Ethnographie. In: Uwe Flick, Ernst von Kardorf, Ines Steinke (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek 2004, S. 384–401.
-
40)
Vgl. Hans Fischer: Feldforschung. In: Wörterbuch der Völkerkunde. Begründet von Walter Hirschberg. Grundlegend überarbeitete und erweiterte Neuausgabe. Berlin 1999, S. 123.