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Die kürzeste Biografie eines jeden Menschen

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Sachsen-Anhalt-Journal - „Biografie“ (Nr. 3, 2023)

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Im Christentum sind Grabsteine ein individuelles Denkmal für Verstorbene. Durch neue Formen der Bestattung werden Grabsteine jedoch immer seltener. Im Islam sind sie seit jeher unüblich.

Der Hof von Jens Eichenbergs Steinmetzbetrieb in der Salzwedeler Altperverstraße könnte selbst ein kleiner Friedhof sein. In Reih und Glied stehen Grabsteine und liegen Grabplatten in verschiedenen Ausführungen und Farben, als ob sie die letzte irdische Erinnerung an unterirdische sterbliche Überreste wachhielten. Doch hier liegt niemand begraben. Im Gegensatz zu ihren Pendants auf dem Städtischen Friedhof sind diese Steine unbeschriftet. Und erst ein eingravierter Schriftzug – üblicherweise mindestens der Name, sowie das Geburts- und Sterbedatum – machen einen Stein aus einem Steinbruch oder einen Findling vom Feld zu einem Grabmal: Die kürzeste Biografie eines jeden Menschen macht hier den entscheidenden Unterschied.

Vor- und Nachnamen, sowie die Geburts- und Sterbedaten machen Grabsteine, wie hier auf dem Stadtgottesacker in Halle, zu der kürzesten Biografie eines Menschen.

Die Wahl der Materialien kann biografisch beeinflusst sein: rechts und links Grabsteine aus Lausitzer Syenit, einem einheimischen Gestein. Der Stein in der Mitte, Gneis Marina Blue, stammt hingegen aus Indien.

Feuer- und Seebestattungen, sowie Bestattungen im Ruheforst machen dem Erdgrab mit Grabstein Konkurrenz

In dritter Generation führt Steinmetzmeister Jens Eichenberg seinen Betrieb, zu dem zwei weitere Filialen in Arendsee und Kalbe (Milde) gehören. Fast aufs Jahr genau überschneiden sich die drei Generationen mit den Kapiteln der wechselhaften deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, die der Betrieb überstanden hat. Kurz vor der Machtübernahme der Nazis gründete sein Großvater Alfred Eichenberg die Firma 1931 in Kalbe, das damals noch Calbe hieß. Er war Bildhauer und bewarb sich auf eine Anzeige der Stadt, die dringend einen Steinmetz suchte. Dass Alfred Eichenberg seine Paradedisziplin, die Holzbearbeitung, nicht völlig aufgab, lässt sich heute noch an dem hölzernen Triptychon in der Kalbenser Kirche ablesen, das der Bildhauer gestaltete. 1962, nur ein Jahr nach dem Mauerbau, übernahm sein Sohn Lutz den Steinmetzbetrieb, der in der sozialistischen Planwirtschaft der DDR eigentlich gar nicht sein durfte. Durch die herrschende Mangelwirtschaft fehlte es zudem immer wieder an Materialien. 1993 schließlich, nur drei Jahre nach der Wiedervereinigung der BRD und der DDR, übernahm Jens Eichenberg das Unternehmen von seinem Vater: „Eigentlich wollte ich Restauration studieren, aber das wurde mir aufgrund meiner politischen Verfolgung von der SED-Führung verwehrt“, erzählt er im Gespräch mit dem Sachsen-Anhalt-Journal.

Auch beim Sterben gibt es Trends, ist sich Steinmetz Jens Eichenberg sicher. Das fängt mit der Art der Bestattung an: „Nicht mal mehr die Hälfte aller Verstorbenen entscheidet sich überhaupt noch für einen Grabstein“, schätzt er, „wobei die Altmärker:innen in der Hinsicht noch vergleichsweise konservativ sind.“ Einäscherungen, Begräbnisse in Ruheforsten oder Seebestattungen werden etwa immer beliebter und bieten in einer zunehmend weniger christlichen Gesellschaft die passenden – atheistischen – Bestattungsformen. Die oftmals niedrigeren Kosten und der geringere Pflegeaufwand gegenüber dem traditionellen Erdgrab spielen ebenfalls eine Rolle, vermutet Jens Eichenberg.

„Wir bauen keine Paläste auf unseren Gräbern.“

Djamel Amelal, Vorsitzender des Islamischen Kulturcenter Halle e.V.

Djamel Amelal kam zu Beginn der 1990er Jahre von Algerien nach Halle und ist inzwischen Vorsitzender der muslimischen Gemeinde, die als Verein organisiert ist.

Relativ alternativlos ist die Erdbestattung im Islam, erklärt Djamel Amelal, Vorsitzender des Islamischen Kulturcenters in Halle-Neustadt, dem Treffpunkt der muslimischen Gemeinde: „Ein paar Regeln gibt der Koran vor“, erklärt er, „zum Beispiel, dass muslimische Verstorbene schnellstmöglich, also, wenn es geht, am selben Tag, bestattet werden. Außerdem soll eine rituelle Waschung durchgeführt und die Verstorbenen schließlich im Leichentuch, auf der rechten Seite liegend mit Blick nach Mekka, also nach Südosten, beigesetzt werden.“ Die sarglose Bestattung im Tuch ist für Muslim:innen in Sachsen-Anhalt noch nicht möglich. Allerdings soll ein entsprechend verändertes Bestattungsgesetz 2024 in Kraft treten. Auch wenn Sachsen-Anhalt in diesem Punkt der Zeit hinterherhinkt – in 14 von 16 Bundesländern ist die Bestattung im Leichentuch aus religiösen Gründen bereits möglich – nimmt Halle im Sachsen-Anhalter Vergleich eine Vorreiterrolle im Miteinander der Religionsgemeinschaften ein. Bereits im Jahr 1997 wurde auf dem Halleschen Gertraudenfriedhof das erste muslimische Gräberfeld eingerichtet, auf dem seitdem 168 Personen die letzte Ruhe gefunden haben, teilt ein Pressesprecher der Stadt mit. „Nur ganz wenige Familien in unserer Gemeinde lassen ihre Verstorbenen in ihre Herkunftsländer zurückführen“, erzählt Djamel Amelal nicht ohne Stolz – obwohl so eine Rückführung durchaus möglich wäre. Mit rund 4000 Gemeindemitgliedern zu hohen Feiertagen und etwa 1000 Gläubigen beim wöchentlichen Freitagsgebet ist die Hallesche Gemeinde die größte und mit 33 Jahren die älteste Gemeinde Sachsen-Anhalts. Körperschaftsstatus – wie etwa die verschiedenen christlichen Kirchen und viele jüdische Gemeinden – haben muslimische Gemeinden in Deutschland überwiegend nicht, weshalb das Islamische Kulturcenter Halle als Verein organisiert ist und sich über Spenden finanziert.

Das Islamische Kulturcenter in Halle-Neustadt

Grabstellen auf dem muslimischen Gräberfeld auf dem Halleschen Gertraudenfriedhof sind entweder ganz schlicht oder mit einfachen Grabmalen gestaltet.

Über Grabsteine auf muslimischen Gräbern schweigt der Koran, aber Geld spielt indirekt auch bei muslimischen Bestattungen eine Rolle – allerdings anders, als Steinmetz Jens Eichenberg es in Bezug auf neue Bestattungsformen meint. „Wir bauen keine Paläste auf unsere Gräber“, fasst Djamel Amelal die Haltung der muslimischen Gläubigen zusammen, „denn man muss nicht im Tod anfangen, zu bauen.“ Gute und schlechte Taten im Diesseits seien hingegen das, was Tote mit ins Jenseits nehmen, bekräftigt der Vorsitzende der muslimischen Gemeinde, „ansonsten sind im Tod alle gleich“ – ungeachtet aller materieller Hinterlassenschaften. Trotzdem gebe es vereinzelt auch Grabsteine auf den muslimischen Gräbern auf dem Gertraudenfriedhof, „damit die Hinterbliebenen einen Ort zum Gedenken haben“, so Amelal.

Aber die Trauerrituale sind so unterschiedlich wie die Menschen seiner Gemeinde, gibt Djamel Amelal zu: „Zu uns kommen Muslime und Musliminnen aus 40 verschiedenen Ländern und in jeder Kultur haben sich unterschiedliche Bräuche entwickelt. Menschen aus Bosnien oder Albanien haben andere Traditionen als Menschen aus Syrien oder Ägypten.“ Grundsätzlich gelte bei muslimischen Gräbern aber ein Gebot der Schlichtheit: Weniger ist mehr. Blumen und Grabschmuck seien ebenso unüblich wie ausschweifende Ornamentik oder gar Abbildungen der Verstorbenen. Steinmetz Jens Eichenberg bedauert hingegen, dass der biografische Aspekt der verstorbenen Person, der sich vor allem in dem individuellen Grabmal manifestiert, durch anonyme Bestattungsformen – wie etwa Bestattungen auf See oder im Ruheforst – verloren gingen: „Früher stand noch viel mehr Text auf Grabsteinen, etwa der Beruf, ein Lebensmotto des Verstorbenen oder passende Bibelverse.“ Auch ein Familien- oder Zunftwappen sei noch vor hundert Jahren keine Seltenheit gewesen. In den Grabstein eingravierte Fotos der Verstorbenen seien hingegen auch in der Altmark ein eher modernes Phänomen, so Eichenberg: „Vor allem durch Einwanderung nach dem Zerfall der Sowjetunion hat sich diese Tradition auch bei uns verbreitet. Bilder auf Grabsteinen sind aber nicht nur im orthodoxen Christentum, sondern auch in vielen katholischen Gegenden, wie Frankreich, Italien, Kroatien oder Süddeutschland üblich.“

Inzwischen lassen sich Abbildungen jeder Art auf einem Grabstein verewigen. „Einer hat sich zum Beispiel mal ein bestimmtes Motorradmodell auf seinen Grabstein setzen lassen, das er sich zu Lebzeiten nie hat kaufen können“, erinnert sich der Steinmetz. Doch auch der Stein selbst kann biografische Informationen enthalten. „Manche Leute wollen explizit einen einheimischen Stein, also etwa den Rochlitzer Porphyr oder einen Lausitzer Syenit, als Grabstein verwenden“, erzählt Jens Eichenberg, „André Greiner-Pol, Frontmann der DDR-Rockband Freygang, wollte explizit einen Findling aus der Altmark auf seinem Grab in Berlin-Prenzlauer Berg haben, weil er sich der Gegend immer verbunden fühlte. Also habe ich ihm einen altmärkischen Findling gesucht.“

Dass Friedhöfe in Sachsen-Anhalt sich nun auch für muslimische Bestattungen öffnen, begrüßt Jens Eichenberg. Auf dem städtischen Perver Friedhof in Salzwedel gibt es seit 2016 die Möglichkeit, sich nach muslimischem Ritus bestatten zu lassen. Der Steinmetz wünscht sich, dass daraus möglicherweise auch interkulturelle Formen des Gedenkens entstehen, etwa Grabsteine mit Ornamentik oder Koranversen: „Jede:r stirbt. Der Friedhof ist deshalb immer ein Querschnitt durch die Gesellschaft. Es wäre traurig, wenn einer bestimmten Gruppe wegen behördlicher Schwierigkeiten eine Bestattung in ihrer Mitte verwehrt würde.“

„Jede:r stirbt. Deshalb ist der Friedhof ein Querschnitt der Gesellschaft. “

Jens Eichenberg, Steinmetz

Der Steinmetz Jens Eichenberg führt das Kalbenser Familienunternehmen bereits in der dritten Generation.