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Die Glocke aus Jahrsau

Ausgabe

Sachsen-Anhalt-Journal - „Sound“ (Nr. 2, 2025)

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Themen

Erinnerungskultur Geschichte Handwerk & Kunsthandwerk Kirche & Friedhof Kunst & Musik

Ein Klangzeugnis deutscher Zeitgeschichte

Im schlichten Glockenstuhl der kleinen Fachwerkkapelle im Freilichtmuseum Diesdorf hängt sie still und unscheinbar – und doch erzählt sie eine bewegende Geschichte: die Glocke aus Jahrsau. Ihr heller Klang verweist auf ein Jahrhundert tiefgreifender Veränderungen in Deutschland und auf ein Dorf, das heute nicht mehr existiert.

Lange Zeit begleitete die Bronzeglocke das kirchliche Leben im altmärkischen Rundlingsdorf Jahrsau, nordöstlich von Salzwedel. Vermutlich gelangte sie im 19. Jahrhundert aus dem benachbarten Riebau hierher, als die hölzerne Kapelle in Jahrsau durch ein Ziegelgebäude ersetzt wurde. Stilistische Merkmale wie die Rippenform, die Inschrift und die eingravierte Jahreszahl „88“ deuten auf das Entstehungsjahr 1488 hin. Das Schriftband in gotischen Minuskeln über einem stilisierten Lilienfries lautet: Ave Maria gracia plena dominus tecum – „Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir“. Mit einem Gewicht von rund 100 Kilogramm und einer Höhe von 45 Zentimetern entfaltet die Glocke einen hellen, klaren Ton. Eine klangphysikalische Analyse ergab folgende Teiltöne: Unteroktave gis¹ -10, Prime dis² +20, Terz b² -24, Oktave g³ +5, Schlagton g² +5 (Referenzton a¹ = 435 Hz, Abweichungen in Hundertstel Halbton).

Die kleine Fachwerkkapelle an ihrem neuen Standort im Freilichtmuseum Diesdorf und an ihrem alten Standort in Klein-Chüden (unten).

Die wechselvolle Geschichte der Glocke spiegelt die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche des 20. Jahrhunderts wider. Während des Ersten Weltkriegs wurden deutschlandweit Tausende Kirchenglocken für die Rüstungsindustrie beschlagnahmt und eingeschmolzen – allein in der Altmark waren es 422. Die Jahrsauer Glocke blieb aufgrund ihres kunsthistorischen Werts verschont. Auch den Zweiten Weltkrieg überstand sie aus diesem Grund unversehrt, obwohl sie am 18. März 1942 zusammen mit 35 weiteren Glocken aus dem Kreis Salzwedel zur Einschmelzung in die Kupferhütte Ilsenburg im Harz transportiert wurde, wo sie bis 1947 verblieb. Zum Zeitpunkt ihrer Rückkehr hatte sich jedoch das politische Umfeld an ihrem angestammten Ort grundlegend gewandelt.

Nach Kriegsende wurde Jahrsau wegen seiner unmittelbaren Nähe zur innerdeutschen Grenze verstärkt in sicherheits- und grenzpolitische Maßnahmen der SBZ und späteren DDR einbezogen und unterlag zunehmend staatlicher Kontrolle. Zur Grenzüberwachung wurde das Kirchengebäude als Beobachtungsposten genutzt und stark beschädigt, um Schießscharten in Dach, Fenstern und Wänden einzubringen. In den Jahren 1946 und 1947 diente die Kapelle zudem als Verwahrraum für festgenommene Grenzgänger. Der gesamte Ort wurde ab 1952 systematisch entsiedelt, und 1970/71 wurden sämtliche Gebäude, auch die Kapelle, vollständig abgerissen – Jahrsau wurde zur Wüstung.

Als die Glocke 1947 aus Ilsenburg zurückkam, konnte sie glücklicherweise bei einem Bauern aufbewahrt werden, bis sie in den 1980er Jahren endlich einen neuen Platz fand: Den Ostgiebel der Kapelle im benachbarten Klein Chüden, dessen Glocke im Zweiten Weltkrieg eingeschmolzen worden war. Die Baugeschichte der Klein Chüdener Kirche ist sehr gut dokumentiert. Sie wurde im Jahr 1793 als Ersatz für einen mittelalterlichen Vorgängerbau errichtet. Der Neubau erfolgte auf Initiative der Ortsgemeinde, die – trotz erheblicher finanzieller Belastungen – die Durchführung gegen den Widerstand der lokalen Kirchenbehörden durchsetzte. Unterstützung erhielt sie dabei unmittelbar vom preußischen König. Vermutlich aus ökonomischen Gründen entschied man sich für eine schlichte Ausführung: nüchtern und funktional. Als das Gebäude trotz Renovierungsarbeiten im ausgehenden 20. Jahrhundert zunehmend baufälliger und für Gottesdienste unbrauchbar wurde, beschloss der Altmarkkreis Salzwedel, die Kirche Stein für Stein abzutragen und im Freilichtmuseum Diesdorf originalgetreu wieder aufzubauen, um so die Fachwerkkapelle zu erhalten. Am 18. Mai 2020 erklang die Glocke zum ersten Mal an ihrem neuen Standort. Heute wird sie zu besonderen Anlässen geläutet. Ihr Klang erinnert an das verschwundene Dorf Jahrsau, an Zeiten politischer Repression entlang der innerdeutschen Grenze und an die Spuren, die politische Umbrüche in materiellen Zeugnissen hinterlassen können – ein klingendes Sinnbild europäischer Erinnerungskultur.

Literatur:

Hofmann, Jochen Alexander (2020): Endlich eine Kirche im Dorf. Die Umsetzung der Fachwerkkirche aus Klein Chüden ins Freilichtmuseum Diesdorf. In: Sachsen-Anhalt-Journal – Kulturerbe-Netz Sachsen-Anhalt, Nr. 3, S. 12 – 14.

Ruff, Gerhard (2020): Die Wüstung Jahrsau und ihre Glocke. In: Altmark-Blätter, Heimatbeilage der Altmark-Zeitung, Nr. 1, S. 1 – 4.