
gustaf nagel-Förderverein Arendsee e.V./Antje Pochte (nachkolorierte Postkarten)
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Der Jesus vom Arendsee
Der Arendseer gustaf nagel-Förderverein widmet sich dem Leben und Wirken eines Außenseiters, dessen Ideen heutzutage – 100 Jahre später – nichts an Aktualität eingebüßt haben.
Gustaf Nagel war Wanderprediger, Lebensreformer, Umweltschützer, Liedermacher, Rechtschreibreformer, Prophet, Provokateur und Poet. Heute würde man ihn vielleicht als harmlosen Hippie oder Öko bezeichnen, aber Gustaf Nagel lebte vor 100 Jahren, als Freikörperkultur, vegetarische Ernährung und Polygamie noch höchst skandalös waren. Ein Arendseer Verein will nicht nur das Erbe des wohl unkonventionellsten Altmärkers erhalten, sondern auch seinen Tempel am See wiederaufbauen.

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Die Zeitzeug:innen, die Gustaf Nagel in ihrer Kindheit kannten, sind nun im Rentenalter.
Rund ein Dutzend ältere Leute haben an diesem Montagnachmittag im November in einem Multifunktionssaal des Arendseer Haus des Gastes platzgenommen. Auf den Tischen stehen Kaffeetassen und Teller mit Blechkuchen, während Antje Pochte und Berit Fingerhut hinter einer Trennwand aus Holzpanelen Kaffee brühen. Die beiden Frauen sind Mitglieder im Arendseer „gustaf nagel“ Förderverein Arendsee e.V., der zu diesem Termin eingeladen hat. (Die Kleinschreibung seines Namens und die Verwendung des F anstelle des V ergibt sich aus der von ihm erfundenen vereinfachten Rechtschreibung.) Der Verein will Zeitzeug:innen, die Gustaf Nagel noch persönlich kannten, interviewen und ihre Erinnerung auf Video festhalten. „Wir wollen, dass das Wissen aus erster Hand nicht verloren geht“, begründet die Vereinsvorsitzende Antje Pochte den Termin. „Viele Zeitzeug:innen, die Gustaf Nagel vor seinem Tod im Jahr 1952 noch bewusst erlebt haben, sind inzwischen über 80 Jahre alt“, ergänzt Berit Fingerhut. Die Devise ist also: jetzt oder nie.
Für keine Gesellschaftsordnung zu gebrauchen
Nur zögerlich nehmen die Zeitzeug:innen auf dem Stuhl vor der Kamera Platz. Einige von ihnen haben im Vorhinein Gedächtnisprotokolle angefertigt, um ihre Erinnerungen flüssig erzählen zu können. Ein bisschen aufregend scheint der Nachmittag aber für viele der Arendseer Einwohner:innen, die der Einladung des Vereins gefolgt sind, trotzdem zu sein, denn schnell reden alle durcheinander. Für den Kameramann Hannes Gerlof ist es sichtlich schwer, den Erzählungen zu folgen. Schnell wird klar, dass sich an Gustaf Nagel offensichtlich auch 100 Jahre später noch die Geister scheiden. „Er war eigentlich für keine Gesellschaftsordnung so richtig zu gebrauchen“, fasst einer der Redner die Tragik und die bis heute andauernde Faszination des „Jesus vom Arendsee“ treffend zusammen.

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Berit Fingerhut (Mitte) und Antje Pochte (rechts) vom Gustaf Nagel-Förderverein im Gespräch mit Hauke Heidenreich (links).
Der Lebensreformer hat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf einem Grundstück direkt am Arendsee gewohnt und ein nonkonformistisches Aussteigerleben weitgehend abseits der Kurstadtgesellschaft geführt. Eine kaufmännische Ausbildung habe den 1874 in der benachbarten Hansestadt Werben geborenen Gustaf Nagel nach Arendsee gebracht, erzählt Antje Pochte im Gespräch mit dem Sachsen-Anhalt-Journal. Eine Entzündung der Schleimhäute und verschiedene Allergien zwangen den jungen Mann aber dazu, die Ausbildung vorzeitig abzubrechen.

gustaf nagel-Förderverein Arendsee e.V./Antje Pochte (nachkolorierte Postkarten)
Ist das Jesus? Gustaf Nagel kultivierte die Ähnlichkeit zu dem Propheten. Er ließ sich lange Haare wachsen, ernährte sich vegetarisch, lief barfuß und erbaute Tempel, musste sich dafür aber Spottnamen wie „Schnitzelheiliger“ gefallen lassen.
Er krempelte sein Leben um, wandte sich der Naturheilkunde zu, ernährte sich fortan ausschließlich vegetarisch und therapierte seine Krankheiten mit Kneippkuren, die nur wenige Jahrzehnte zuvor in Mode gekommen waren. Dass sich sein Gesundheitszustand tatsächlich verbesserte, interpretierte der junge Gustaf Nagel als Erweckungserlebnis, das er fortan mit der Welt teilen wollte. Seine Abkehr vom Fortschrittsglauben seiner Zeit hin zu einem einfacheren Lebensstil – er ließ seine Haare wachsen, lief fortan nur noch barfuß oder in Sandalen und lebte zwischenzeitlich in einer Erdhöhle in einem Waldstück in der Nähe von Werben – kennzeichnen ihn als ein Kind des industriellen Zeitalters oder, genauer gesagt, der anti-modernen Reaktionen auf die Fragen jener Zeit.
Verschiedene soziale und teils esoterische Reformbewegungen, wie etwa die Freikörperkultur, die Turnbewegung, der Ausdruckstanz, erste Jugendbewegungen wie die Wandervogelbewegung, und die Reformpädagogik entstanden in der Zeit um den Jahrhundertwechsel zum 20. Jahrhundert. „Vor dem Ersten Weltkrieg waren viele Leute auf der Suche nach alternativen Lebenswegen“, erzählt Antje Pochte, die selbst als Schulleiterin an der reformpädagogischen Jeetzeschule (JiS) in der Kreisstadt Salzwedel arbeitet.

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Gustaf Nagel inszeniert sich auf einer Postkarte bibellesend.
Kooperationen mit Schulen und Vereinen
Der Gustaf Nagel-Förderverein hat gerade einen Generationenwechsel vollzogen: „Die älteren Vereinsmitglieder haben jahrelang das Seetempel-Areal am Arendsee erhalten und das ist toll“, erzählt Antje Pochte, „darauf wollen wir Jüngeren nun aufbauen“. Und das meint sie im buchstäblichen Sinne: Sie und ihre Mitstreiterin Berit Fingerhut haben nämlich große Pläne für den Tempel, der während und nach dem Zweiten Weltkrieg bewusst zerstört wurde, und der heute nur noch als Ruine am Südufer des Arendsees steht. Der Verein hat mithilfe von LEADER-Mitteln eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben, um einen Wiederaufbau von Gustaf Nagels wichtigster Wirkungsstätte in dem Kurort zu prüfen. Dessen Wohnhaus befand sich auf demselben Areal. Ein zweiter, etwas höher gelegener Tempel im Kaffeegarten, die sogenannte Kurhalle, ist vollständig erhalten und heute im Besitz des angrenzenden Hotels Deutsches Haus.

gustaf nagel-Förderverein Arendsee e.V./Antje Pochte (nachkolorierte Postkarten)

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Die Kurhalle auf einer historischen Postkarte und heute
Die positiv beschiedene Machbarkeitsstudie prognostiziert einem möglichen Tempelwiederaufbau großes touristisches Potenzial, sodass der Verein inzwischen Spenden sammelt, um verschiedene Voruntersuchungen und -vermessungen für einen Bauantrag zu finanzieren. Bei der Landschaftspflege bekommt der Verein inzwischen tatkräftige Unterstützung von Schülergruppen der JiS, die das Gustaf Nagel-Areal als außerschulischen Lernort nutzen. Außerdem gebe es wechselnde, informelle Kooperationen mit dem Kinder- und Jugenderholungszentrum (KiEZ) Arendsee / Altmark e.V., dem Klosterförderverein Arendsee e.V., der Filmstadt Arendsee e.V., die jährlich mehrere Jugendfilmcamps organisiert, und dem Arendseer Verein Rund um den See e.V., der unter anderem einen Yoga-Rundweg am Ufer des Sees angelegt hat. Die Arendseer Unternehmerin Kathrin Goyer ist beispielsweise als Schirmherrin sowohl im gustaf nagel-Förderverein und im Rund um den See-Verein aktiv.
„Gustaf Nagel ging immer allein mit gesenktem Kopf durch die Straßen.“
„Gustaf Nagel war schon zu Lebzeiten eine Sehenswürdigkeit“, erzählen Berit Fingerhut und Antje Pochte, „ein Besuch bei Gustaf Nagel gehörte zu einem Urlaub in Arendsee einfach dazu.“ Mehrere zeitgenössische Postkarten und die Erinnerungen der Zeitzeug:innen belegen das. „Der Mann hatte eine regelrechte Aura um sich“, erinnert sich die Arendseerin Ursula Taut, die Gustaf Nagel in ihrer Kindheit kannte, „er fiel einfach immer auf.“ Viele ihrer Altersgenoss:innen berichten am Nachmittag unisono, dass sie den kuriosen Nachbarn als Kinder gern veräppelt haben. „Er war ja ganz anders angezogen“, probiert eine Frau die Streiche im Nachhinein zu rechtfertigen. „Rückwirkend stimmt es mich traurig, dass man ihn damals nicht als wertvollen Menschen gesehen hat“, sagt Anne Buchmeyer vor der Kamera und bezieht sich auf die damalige Ignoranz der Arendseer Nachkriegsbevölkerung gegenüber Gustaf Nagel.
Trotz aller Aufmerksamkeit, die seine Mitbürger:innen dem berühmtesten Sohn der Stadt auch im hohen Alter noch entgegenbrachten, schien es einsam um ihn geworden zu sein. Rund dreißig Jahre und zwei Diktaturen nach der Blütezeit seiner Bewegung – die Nazis hatten den unbequemen Außenseiter zwischenzeitlich ins Konzentrationslager Dachau eingewiesen; die SED-Behörden steckten ihn in die Nervenheilanstalt Uchtspringe – fanden kaum noch Nagel-Anhänger:innen den Weg an den Arendsee, der nun in der absoluten Peripherie der neugegründeten DDR lag. „Ich habe Gustav Nagel nie in Begleitung Erwachsener gesehen“, erinnert sich die Arendseerin Anne Buchmeyer: „Er ging immer, ein wenig mit gesenktem Kopf, allein durch die Straßen.“ Der damalige Pfarrer der Arendseer Klosterkirche, Reinhold Kannicht, verbot ihm sogar, an den Gottesdiensten teilzunehmen. Selbst in der eigenen Familie – Nachkommen Gustav Nagels lebten nach seinem Tod im benachbarten Wendland – war und ist der Prophet vom Arendsee umstritten.
„Ja, man sollte über Gustaf Nagel streiten!“

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Die Statue von Gustaf Nagel in der Arendseer Innenstadt schreitet vom Rathaus weg – eine Metapher auf die schwierige Beziehung, die der Wanderprediger und seine altmärkische Heimatstadt verbindet.
Und auch sein Heimatstädtchen kann sich nicht zu bedingungsloser Liebe durchringen: eine 2010 in der Innenstadt aufgestellte Statue steht nicht, wie ursprünglich angedacht, auf dem Platz vor dem Rathaus, sondern mit dem Rücken vom Rathaus abgewandt auf der gegenüberliegenden Straßenseite. „Man sollte auch über ihn streiten“, sagt Antje Pochte heute über Gustaf Nagel, „natürlich war er ein Sonderling und ein Mensch voller Widersprüche.“
Er sympathisierte früh mit den Nazis, um schließlich selbst in einem Konzentrationslager zu landen. In der DDR ist er schnell angeeckt, während einige seiner progressiven Ideen durchaus anschlussfähig gewesen wären mit der Aufbruchsstimmung, die in den Anfangsjahren des sozialistischen Staates herrschte. Obwohl Gustaf Nagel sehr gläubig war, war er Konservativen und der Kirche ein Dorn im Auge. In seinem Tempelgarten standen vier große Phallussäulen, die er in den Farben des Deutschen Reichs beflaggte, wenn er aus dem Seetempel vor sein Publikum trat. Antje Pochte probiert deshalb lieber, Gustaf Nagel jenseits aller Schubladen in die heutige Zeit zu übersetzen: „Ich glaube, man kann von ihm lernen, sich selbst treu zu bleiben, zu probieren, im Einklang mit der Natur zu leben und sich seinen kritischen Geist zu bewahren. In vielerlei Hinsicht“, ist Antje Pochte sich sicher, „war er ein Opfer seiner Zeit“.

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Von Gustaf Nagels Seetempel sind nur noch Reste übrig. Der Förderverein möchte ihn wieder aufbauen.
Der Seetempel, den Gustaf Nagel zeitlebens vor allem als Bühne genutzt hat und der vor allem ihm selbst und seiner Familie vorbehalten war, soll nach seinem Wiederaufbau als Veranstaltungsort dienen, stellen sich Berit Fingerhut und Antje Pochte vor: „Zurzeit ist das Ufer ziemlich mit Schilf überwuchert, aber wir würden gern auch wieder Kneippbäder an der Stelle ermöglichen“, so die Vereinsvorsitzende. Aus der Crowdfunding-Kampagne erfährt man, dass in das wiedererrichtete Gebäude eine kleine Ausstellung zu Gustaf Nagel einziehen soll. Der Paradiesgarten, der nicht originalgetreu, sondern „im Nagelschen Sinne“ gestaltet werden soll, ist schon jetzt eine Station auf dem Yoga-Rundweg. Eine Weiterentwicklung als außerschulischer Lern- und Erlebnisort ist vorgesehen. Der Steg, der in den See führt und auf alten Postkarten zu sehen ist, soll wieder errichtet werden. An der Stelle, an der einmal die Wohnbaracke von Gustaf Nagel gestanden hat, planen die Vereinsmitglieder die Einrichtung eines Barfußpfads. Direkt daneben wollen sie einen Obst- und Gemüsegarten anpflanzen.
Tourismushochburg der Altmark
Die Themen Heilkunde, vegetarische Ernährung, Natur- und Umweltschutz, Upcycling, sowie Spiritualität, für die das Leben Gustaf Nagels steht, passen gut zu dem Slow Tourism-Konzept, dem sich in den letzten Jahren mehr und mehr Regionen verschrieben haben, und das den Fokus auf einen achtsamen Umgang mit den Ressourcen in den Urlaubsorten legt.
Mit aktuell rund 138.000 Übernachtungen ist Arendsee schon jetzt die Tourismushochburg der Altmark: „Das sind rund ein Drittel aller Übernachtungen der gesamten Altmark in einer Gemeinde, die nur rund 3,5 Prozent der Bevölkerung der Altmark ausmacht“, bestätigt Carla Reckling-Kurz vom Altmärkischen Tourismusverband die große Bedeutung Arendsees. Sie befürwortet die Pläne des Vereins, den Seetempel wiederaufzubauen, ausdrücklich: „Mit dem Erbe Gustaf Nagels hat Arendsee ein touristisches Alleinstellungsmerkmal, das hochinteressant für geschichtsinteressierte und gesundheitsbewusste Gäste ist.“ Das Potenzial sei ihrer Einschätzung nach aber noch nicht ausgeschöpft. Auch die vom Verein beauftragte Machbarkeitsstudie prognostiziert vorsichtig, dass ein wiederaufgebauter Seetempel 5.000 bis 8.000 zusätzliche Besucher:innen pro Jahr anziehen könnte. Und das dürfte wohl selbst Gustaf Nagel vor 100 Jahren nicht gelungen sein.
Infokasten
Um den Wiederaufbau des Seetempels und des Paradiesgartens auf dem Gustaf-Nagel-Areal zu bewerkstelligen, ist der Gustaf Nagel-Förderverein weiterhin auf Spenden angewiesen. Aktuell fehlen dem Verein noch knapp 10.000 Euro, bis die 21.000 Euro zusammen sind, die der Verein als Eigenanteil nutzen will. Das gesamte Bauvorhaben soll etwa 180.000 Euro kosten und größtenteils aus Fördermitteln finanziert werden.