Matthias Behne
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Das Glockengeläut der Harzer Kuhherden
Heute ist das charakteristische Glockengeläut der Harzer Kuhherden nur noch selten zu hören – allenfalls beim traditionellen Viehaustrieb zu Pfingsten in Wildemann oder beim sogenannten Kuhball in Tanne, der jährlich am Sonntag vor Himmelfahrt stattfindet. Doch noch bis in die 1960er Jahre gehörten Kuh-, Rinder- und Kälberherden fest zum Dorfbild vieler Harzorte.
In früheren Jahrhunderten war das Leben der Menschen im Harz hart und der Lohn gering, insbesondere für das Bergvolk. Viehhaltung bot hier einen wichtigen Nebenerwerb und trug zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage vieler Familien bei. Die Viehhaltung war streng geregelt. Die Landesherren legten in sogenannten Weidegerechtsamen genau fest, wie viele Tiere ein Haushalt – je nach gesellschaftlichem Stand – halten durfte. Gleichzeitig wurde auch die gemeinsame Waldweide erlaubt. Die Tiere trugen bei diesen Ausflügen in den Wald geschmiedete Schellen, im Harz schlicht „Glocken“ genannt. Diese erfüllten gleich mehrere Zwecke: Verirrte Tiere fanden durch den Klang leichter zur Herde zurück, der Hirt konnte verlorene Kühe schneller aufspüren, Raubtiere wurden abgeschreckt und sogar der Hütejunge, der dem Hirten das Mittagessen brachte, konnte die Herde so problemlos orten.
Eine der frühesten Beschreibungen des Harzer Geläuts stammt aus dem Jahr 1775. Damals schrieb ein Reisender von seiner Rückkehr aus dem Clausthaler Hüttenwerk und schilderte seine Eindrücke: Es sei für einen Fremden ein angenehmes Schauspiel, wenn eine große Herde mit vollem Geläut heimkehrt. Nicht jede Kuh trug eine Glocke – nur ausgewählte Tiere. Die übrigen Kühe orientierten sich an diesen Tieren, folgten dem Klang oder suchten ihn gezielt auf, wenn sie sich verirrt hatten. Der Verfasser erkannte vier verschiedene Töne: cis, eis (oder f) und gis. Die tiefste Glocke hieß „Stumpe“, gefolgt von der „halben Stumpe“ (cis), der „großen Bell“ (eis) und der „kleinen Bell“ (gis). Manchmal, so glaubte er, höre man sogar die höhere Oktave von cis. Auf dem Klavier überprüft, ergab dieses „Kuhmusik“ tatsächlich einen vollen Akkord in Cis-Dur.1
Während das Geläut im 18. Jahrhundert aus nur vier Tönen bestand, wurde es im 19. Jahrhundert klanglich erweitert. Die Hirten entwickelten ein feines Gespür für Harmonie und statteten bald jede Kuh mit einer eigenen Glocke aus – ein Geläut konnte nun bis zu acht verschiedene Töne umfassen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Zahl der Glocken pro Geläut meist auf sieben reduziert.
Auch Reisende und Dichter bemerkten die besondere Stimmung, die vom Klang der Herden ausging. So schrieb Heinrich Heine während seiner Harzreise: „Und in der Ferne klang’s wunderbar geheimnißvoll, wie Glockengeläute einer verlorenen Waldkirche. Man sagt, das seien die Heerdenglöckchen, die im Harz so lieblich, klar und rein gestimmt sind.“2
Der sogenannte Thüringen-Harz-Schellentyp war an seinen typischen Langschellen zu erkennen: Diese waren höher als breit, verjüngten sich nach unten und hatten einen ellipsenförmigen Querschnitt – eine Form, wie man sie auch im Fränkischen Jura findet.3 Die Hirten entwickelten für ihre Glocken eine eigene Harmonielehre mit volkstümlichen Namen: „Oberstump“, „Stump“, „Halbstump“, „Beischlag“, „Lammschelle“, „Biller“ und „Unterbiller“.
Matthias Behne
Jede dieser Glocken hatte eine feste Größe und war einem bestimmten Ton zugeordnet. Ein vollständiges Geläut bildete typischerweise einen Dreiklang über vier Oktaven in einer Dur-Tonart – für Kühe meist in C-Dur oder A-Dur, für Rinder und Kälber in F-Dur.4
Der letzte vollständige Satz eines Harzer Schellenspiels bestand laut dem Schellenschmied Wilhelm Liesenberg (1878 – 1949) aus 36 unterschiedlichen Glocken: darunter ein Unterbiller, acht Biller, neun Lammschellen, zehn Beischläge, sechs Halbstumpen sowie je eine Stump und Oberstump.5 Ein solcher Satz wurde 1964 zum letzten Mal vollständig eingesetzt, als der Kuhhirt Emil Meyer aus Benneckenstein seine Herde damit aus dem Stall trieb. Je nach Größe der Herde konnte das Geläut angepasst oder vervielfacht werden. Die Glocken gehörten dem Hirten selbst. Er verlieh sie gegen einen Silbergroschen an die Viehhalter – so regelte es auch § 7 der Hut- und Weideordnung von St. Andreasberg.6
Hergestellt wurden die Harzer Kuhschellen – ebenso wie Glocken für Schafund Ziegenherden – in der Werkstatt von Wilhelm Liesenberg in Bad Suderode. Dort wurden sie nicht nur geschmiedet, sondern auch gestimmt. Liesenberg war sogenannter „Schellenrichter“, also zuständig für die Klangkorrektur der Glocken. Im Herbst, nach dem letzten Weidegang, zog er mit seinem abgestimmten Schellensatz, einem speziellen Stimmgalgen, Stimmhammer und Eisenfeile von Ort zu Ort. Verstimmte Glocken – sei es durch Beulen, Risse oder abgenutzte Wandungen – wurden fachmännisch überarbeitet. War eine Glocke zu tief gestimmt, schlug Liesenberg eine kleine Beule hinein, im Niederdeutschen „Schtimmbaule“ genannt. War der Ton zu hoch, wurden vorhandene Dellen ausgeglichen oder die Wandung etwas abgefeilt. Auf diese Weise sorgte er dafür, dass das Geläut der Herden im Frühjahr wieder besonders harmonisch erklang.
Insgesamt betreute Wilhelm Liesenberg im Harz 84 Herden mit über 9.000 Glocken – ein Handwerk und eine Klangwelt, die heute fast vollständig in Vergessenheit geraten ist.
Endnoten
1 Vgl.: Zimmermann, E. A. W. v. 1775: Beobachtungen auf einer Harzreise; nebst einem Versuch, die Höhe des Brockens durch das Barometer zu bestimmen. Braunschweig, 37 – 38.
2 Heine, Heinrich 1854: Die Harzreise, 2. Aufl., Hamburg Hoffmann & Campe 1854, 90.
3 Vgl.: Wille, Lutz: Kleine Harzer Kuhglocken-Kunde. Unser Harz 1999, 153 – 156.
4 Vgl.: Klocke, Fritz: Harzer Schäfer und Hirten. Museumsbücherei Quedlinburg, Bd. 7, o. J. [1957], 29 – 32.
5 Vgl.: Irmer, R. O.: Bildreportage, Meister Liesenberg schmiedet Harzer Kuhglocken, o. J. [1943], Archiv
Stadtmuseum Ballenstedt.
6 Vgl.: Wille, Lutz/Resow, Christian: Über das Hirtenwesen im Harz. Clausthal-Zellerfeld 2021, 48 – 49.
