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Brot und Viele: Wie Sachsen-Anhalter altes Gebäck mit neuem Sinn füllen
Ausgerechnet im brotverliebten Deutschland verschwinden Bäckerei- und Konditoreibetriebe aus den Orten. Vor allem kleine Handwerksbetriebe und traditionelle Backstuben sind betroffen und werden von Franchise-Unternehmen großer Ketten, Backshops und Backregalen in Supermärkten mit Backwaren aus industrieller Herstellung verdrängt. Mit dem (Zucker-) Bäckerhandwerk verschwinde ein Stück Identität, befürchten viele. Doch einige Betriebe und Vereine in Sachsen-Anhalt haben Wege gefunden, alte Backtraditionen mit dem Zeitgeist in Einklang zu bringen.
Rund 3,4 Millionen Deutsche leben im Ausland und auch, wenn sich fast keine allgemeinen Aussagen über deren Integrationswillen treffen lassen, sind viele von ihnen in einem Aspekt wenig kompromissbereit: dem Brot. Zu weiß, zu weich, zu labberig, kann man das überhaupt Brot nennen? Schon Bertolt Brecht klagte 1941 im amerikanischen Exil: „Es gibt kein richtiges Brot in den Staaten.“ Inzwischen ist die Besonderheit von Pumpernickel, Altmärkerbrot, Reformationsbrötchen und über 3000 weiteren Brotsorten in Deutschland auch von offizieller Seite anerkannt. 2014 wurde diese als Deutsche Brotkultur von der UNESCO in das bundesweite Verzeichnis des immateriellen Weltkulturerbes aufgenommen.
Der Begriff der „deutschen Brotkultur“ ist schwierig zu umreißen. Und das fortschreitende Bäckereisterben der letzten Jahrzehnte, zuletzt beschleunigt durch die Energiekrise und gestiegene Rohstoffkosten, lässt sich mit dem UNESCO-Titel auch nicht aufhalten. 780 Handwerksbäckereien haben laut Deutscher Handwerkszeitung im Jahr 2022 die Bäckerschürze an den Nagel gehängt. Nur 422 Neueröffnungen stehen den Geschäftsaufgaben gegenüber. Seit den 1960er Jahren ist die Anzahl der Bäckereibetriebe von rund 55.000 in den alten Bundesländern auf knapp 10.000 im nunmehr wiedervereinigten Deutschland gesunken.
Ausgerechnet die altmärkische Baumkuchenstadt Salzwedel ist von den Bäckereischließungen aktuell besonders betroffen. Von vier Bäckerläden, die es vor einem Jahr noch in der Innenstadt gab, ist inzwischen nur noch einer übrig. Die drei anderen Läden gehörten zur Salzwedeler Baumkuchen GmbH, deren Geschäftsführerin und Inhaberin Rosemarie Lehmann zu Beginn des Jahres das Aus des Unternehmens angekündigt hat. Das Geschäft mit dem Baumkuchen laufe zwar gut, erzählte sie damals der Salzwedeler Volksstimme und mehreren überregionalen Medien. Trotz intensiver und jahrelanger Suche habe die 73-Jährige aber keine Unternehmensnachfolge gefunden. Die gestiegenen Energiekosten machen ihr, wie vielen anderen Bäckereien im Land, zusätzlich zu schaffen. Deswegen bleiben die Öfen ab 31. Juli 2023 aus.
Anders sieht es bei der Traditionsbäckerei Schiering in Bad Lauchstädt aus, die Jens Schiering bereits in dritter Generation betreibt. Sein 26-jähriger Sohn Johannes (auf dem Cover dieser Ausgabe) hat sich ebenfalls für das Bäckerhandwerk entschieden: „Ich fand es schon immer faszinierend, Backwaren mit meinen eigenen Händen herzustellen. Schon als Kind bin ich oft vor der Schule mit meiner Mutter runter in die Backstube gegangen und habe bei einfachen Handgriffen geholfen“, erinnert er sich. Nächstes Jahr wird er seinen Meister machen. Die Veränderungen in seiner Zunft fallen Johannes Schiering auch auf: „In meinem Ausbildungslehrgang waren sämtliche Bäckereilehrlinge aus ganz Sachsen-Anhalt
zusammen an einer Schule: wir waren vielleicht 25 Leute.“ Im selbst war es wichtig, nicht in einer der Großbäckereien zu lernen. Aber er versteht seine Altersgenoss:innen, die andere Ausbildungsberufe ergreifen: „Sicher, es ist nicht der attraktivste Beruf. Viele wollen nicht mitten in der Nacht aufstehen.“ Sein Arbeitstag beginnt um halb 12 Uhr abends. Um 8 Uhr morgens geht er zu Bett. „Es gab sicherlich Zeiten, da hat mich das auch sehr gestört“, sagt er heute, „inzwischen könnte ich’s mir gar nicht mehr anders vorstellen.“
Ob er eines Tages die Familienbäckerei von seinem 55-jährigen Vater übernehmen wird, will er sich allerdings noch offenhalten. Der Wandel, mit dem sich das Backhandwerk momentan konfrontiert sieht, ist groß, weiß auch Johannes Schiering zu berichten: „Wir haben glücklicherweise eine sehr treue Kundschaft. Ich würde mir aber wünschen, dass die Leute die Qualität von Selbstgebackenem wieder mehr zu schätzen wissen, auch wenn das teurer ist als der Backshop im Supermarkt.“ Für viele Leute sei der Preis das wichtigste Argument beim Einkaufen. Angesichts der gestiegenen Energie- und Rohstoffpreise sei es für kleine Handwerksbäckereien unmöglich, in dem Punkt mit den großen Supermarktketten Schritt zu halten. Denjenigen, die sich persönlich von der Qualität der Schiering’schen Backwaren überzeugen wollen, empfiehlt er das sogenannte Wurzelbrot: „Das ist ein Weizenteig, der 24 Stunden reifen muss, mit einer Pfefferkruste. Perfekt für den Grillabend!“
Backt man im Harz bald Salzwedeler Baumkuchen?
Kurzzeitig gab es Gerüchte, dass das das Wernigeröder Unternehmen Harzer Baumkuchen die Salzwedeler Baumkuchen GmbH übernehmen wolle – immerhin genießt Salzwedeler Baumkuchen wie etwa Lübecker Marzipan und Nürnberger Lebkuchen als geografisch geschützte Angabe einen besonderen Schutz auf europäischer Ebene. Der Mitbewerber, dessen Schließung nun feststeht, ist eines von nur zwei Unternehmen, das dieses Siegel führen durfte. Zwei weitere Salzwedeler Baumkuchenbäckereien erfüllen die strengen Vorgaben der Europäischen Union nicht und nennen ihr Produkt deshalb nicht „Salzwedeler Baumkuchen“, sondern „Königlicher Baumkuchen“ oder „Baumkuchen Hennig“. Der Inhaber der Harzer Baumkuchen, Christian Feuerstack, dementiert die Übernahmegerüchte gegenüber dem Sachsen-Anhalt-Journal. Die Schließung der Salzwedeler Baumkuchen GmbH bedaure er aber sehr: „Eine Übernahme oder Beteiligung wäre zwar grundsätzlich ganz interessant. Doch der Fachkräftemangel sowie die aktuelle wirtschaftliche Situation machen es extrem schwierig“, so Feuerstack.
Indes hat sich auch die Politik eingeschaltet, um die Schließung des Salzwedeler Traditionsunternehmens abzuwenden. Das Sachsen-Anhalter Wirtschaftsministerium unter Sven Schulze (CDU) teilte bereits im Januar gegenüber der Salzwedeler Volksstimme mit, die Suche nach Investoren zur Chefsache machen zu wollen.
„Am 16. März habe ich mein Amt angetreten. Am 17. März habe ich bei der Baumkuchen GmbH angerufen.“
Im Café Kruse, Salzwedels wohl bekanntestem Baumkuchencafé, scheint die Zeit optisch im Kaiserreich stehengeblieben zu sein. Zu jener Zeit hatte nämlich die von der Familie Hennigs geführte „Erste Salzwedeler Baumkuchenfarbrik“ – ein weiterer verbleibender Mitbewerber auf dem Salzwedeler Baumkuchenmarkt – den preußischen Hof mit dem sogenannten König der Kuchen beliefert. Schwere Gardinen mit Blumenmuster lassen selbst an diesem Mittag im Hochsommer nur wenig Sonnenlicht in das Lokal. Aus den Boxen dudelt fröhliche Schlagermusik. An den Wänden hängen unzählige Memorabilia, die die jahrhundertelange Baumkuchentradition in der altmärkischen Kreisstadt illustrieren. An einem der Tische hat Olaf Meining, Bürgermeister von Salzwedel, platzgenommen: „Ich habe am 16. März dieses Jahres mein Amt angetreten. Am 17. März habe ich den Telefonhörer in die Hand
genommen und Frau Lehmann angerufen“, erinnert er sich. Wenn in einer kleinen Stadt wie Salzwedel 100 Arbeitsplätze auf dem Spiel stünden, sei das vergleichbar mit Situationen, in denen man auf Bundesebene Rettungsschirme spannen würde, so Meining. „Ich muss aber ganz ehrlich sagen: Die Möglichkeiten der Stadt zu intervenieren, sind stark begrenzt. Wir können allenfalls Kontakte vermitteln, und das habe ich Frau Lehmann angeboten.“
Die drei Bäckereifilialen der Baumkuchen GmbH in der Salzwedeler Innenstadt schlossen sukzessive schon im Frühjahr 2023. Inzwischen habe sich zumindest für das Café Schwarzer Adler im Erdgeschoss des ehemaligen Neustädter Rathauses ein Salzwedeler Gastronom gefunden, der es in ähnlicher Form weiterführen werde, entwarnt Olaf Meining. Neben dem wirtschaftlichen Schaden befürchtet er mit der Schließung des Baumkuchenbetriebes vor allem einen empfindlichen Kratzer im Selbstbewusstsein der Salzwedeler:innen: „Ich bin Anfang der 1980er Jahre von Mecklenburg-Vorpommern nach Salzwedel gekommen. Selbst zu DDR-Zeiten, als auf viele Ostprodukte herabgeschaut wurde, galt der Baumkuchen als Bückware – ein Luxusprodukt, das auch im Westen begehrt war.“ Inzwischen ist er auch ein bedeutender Tourismusfaktor für die altmärkische Hansestadt geworden. Immer wieder besuchen Tourist:innen aus Japan – wo eine leicht abgewandelte Form des Salzwedeler „Baumukuuhen“ seit gut 100 Jahren bekannt und beliebt ist – die Altmark auf der Suche nach dem Original.
Süßwaren für Fortgeschrittene aus Tangermünde
Ob die Tangermünder Nährstange eine ebenso internationale Fangemeinde hinter sich scharen kann, wie der Baumkuchen, ist nicht überliefert. Zumindest Kindern der DDR dürfte der Schokoriegel mit der hellen, nougatartigen Füllung aber ein Begriff sein. ‚Süßwaren für Fortgeschrittene‘ steht auf dem roten Etikett direkt unter dem Produktnamen. „Die Nährstange polarisiert“, ist sich Olaf Stehwien, Inhaber der Konditorei Stehwien, die den Süßigkeitenklassiker nach wie vor in Tangermünde produziert, sicher:
„Die einen mögen sie gar nicht. Die anderen lieben sie.“ Der Unternehmer will sich aber nicht ausschließlich auf die Nostalgie seiner Kundschaft verlassen. Deshalb hat er die Produktpalette seiner Konditorei in den letzten Jahren stetig erweitert um Naschwerk, das auch Nachwendekinder anspricht. „Unser Kerngeschäft sind weiterhin lokale, heimatstiftende Produkte wie die Tangermünder Nährstange oder die Magdeburger Kugeln“, versichert er. Die Zukunft liege aber in biologischer Produktion und in der Vermeidung tierischer Zutaten. Deshalb verkauft die Konditorei Stehwien seit 2015 auch biologische und vegane Schokolade. Ganz einfach war der Schritt allerdings nicht.
„Ich bin selbst großer Gartenliebhaber“, begründet Olaf Stehwien sein ausgeprägtes Faible für alles Grün. Deswegen interessierte er sich dafür, wie er seine Schokolade möglichst klima- und umweltschonend herstellen könnte, ohne dass der Geschmack darunter leiden würde. „Verzichtet man bei der Herstellung von Schokolade nämlich komplett auf tierische Fette, leidet vor allem der feine Schmelz darunter. Vegane Schokoladen hatten damals oft eine körnige Konsistenz“, erzählt der studierte Ingenieur. Mit einem neuen Herstellungsverfahren, in dem die Kakaobestandteile wesentlich feiner gemahlen werden, konnte er die Geschmeidigkeit der Schokolade erhöhen. Die vegane Schokolade besteht nur aus den drei Zutaten Kakaobutter, Kokosblütenzucker und Kakaopulver.
„Der regionale Bezug ist uns wichtig.“
Dass ausgerechnet Tangermünde der Standort eines der erfolgreichsten Süßwarenherstellers Sachsen-Anhalts ist, ist kein Zufall. Schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gründete Friedrich Theodor Meyer eine Zuckerraffinerie, später eine Marmeladenfabrik und schließlich eine Schokoladenfabrik, die fortan unter dem Markennamen Feodora Süßwaren produzierte. Die Elbe war als Transportweg ausschlaggebend für die industrielle Produktion. Ein eigens für diesen Zweck errichteter Zuckerhafen in Tangermünde existiert inzwischen nicht mehr.
Obwohl das Unternehmen Feodora nach der staatlichen Enteignung nach Bremen übersiedelt, wird die Schokoladenproduktion in Tangermünde auch zu DDR-Zeiten fortgesetzt: In den 1950er Jahren kommen die erste Rollistangen und Nährstangen auf den Markt – wegen der herrschenden Mangelwirtschaft mit unterschiedlichen Rezepturen. Die Produktion der Nährstange wird jedoch Mitte der 1970er Jahre eingestellt. Die hochwertigen Zutaten, wie Butter und Sojamehl, sowie der hohe Anteil an Handarbeit in der Produktion machen den Kult-Schokoriegel unrentabel.
Der Tangermünder Bäcker und Konditor Klaus Stehwien, ein Onkel von Olaf Stehwien, übernahm die Nährstange-Rezeptur schließlich 1985 und verhalf der beliebten Süßigkeit – vorerst nur in kleiner Mengenzahl – zu einem Revival. Die Tangermünder:innen dankten es ihm. Inzwischen ist der Familienbetrieb zu einem mittelständischen Unternehmen herangewachsen, das sich auf vielfältige Weise in der östlichen Altmark engagiert: „Während der Corona-Pandemie wollten wir ein Zeichen setzen gegen den Leerstand in der Tangermünder Innenstadt und haben 2021 einen Showroom in der Langen Straße eröffnet“, erzählt Olaf Stehwien.
Außerdem unterstützt das Unternehmen Vereine, Stadt- und Dorffeste in der Gegend finanziell. „Der regionale Bezug ist uns wichtig“, beteuert er. Dass Tangermünde ihm am Herzen liegt, merkt man. Und die Liebe wird erwidert. Im Jahr 2021 wurde die Konditorei Stehwien mit dem Altmärkischen Wirtschaftspreis ausgezeichnet. Zudem wurden seine Produkte im letzten Jahr als eine der ersten mit dem neu eingeführten Regionalsiegel ,echt Alt-mark ausgezeichnet. Schokoriegel aus dem Hause Stehwien sind selbst zum Touristenmagneten geworden: „Besucher innen der Stadt bringen ihren Daheimgebliebenen gerne Nährstangen aus Tangermünde mit“, schildert der Unternehmer.
Jahrhundertelange Backtradition in Schleberoda
Dass das Backhandwerk in dem Rundlingsdorf Schleberoda eine zentrale Rolle einnimmt, ist schwer zu übersehen. Mitten im Dorf, das inzwischen ein Ortsteil von Freyburg (Unstrut) ist, steht das Backhaus von 1789 wahrscheinlich an genau der Stelle, an dem schon ein Vorgängerbau stand. „Um die Brandgefahr für die anderen Häuser im Dorf zu verringern, stand es ursprünglich frei, umringt von den Wohnhäusern. In unseren Nachbardörfern Ebersroda und Baumersroda gibt es genau solche Backhäuser mitten im Dorf, die heute allerdings nicht mehr genutzt werden“, erzählt Karin Reglich vom Heimatverein Schleberoda im Telefoninterview mit dem Sachsen-Anhalt-Journal.
Seit Jahrhunderten wird in Schleberoda gebacken. „Das Backhaus ist allerdings keine Bäckerei“, stellt sie klar. Bis in die Nachwendezeit brachten die Schleberodaer:innen dem letzten Gemeindebäcker Herbert Seidel ihren vorbereiteten Teig und bezahlten ihm ein paar Pfennige für das Abbacken von Brot oder Blechkuchen. Die Gemeinde besorgte im Gegenzug die Kohlen zum Heizen. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurde im Zweiwochenrhythmus gebacken, ab den 1970er Jahren wurde das Backhaus schließlich nur noch zu hohen Feiertagen genutzt. Während die Backhäuser in den Nachbarorten zu dieser Zeit ihre Funktion verloren, übernahm Thomas Ehret nach der Wende das besondere Amt des Gemeindebäckers in Schleberoda, um wenigstens das Stollenbacken in der Vorweihnachtszeit zu retten und die Tradition fortzusetzen. Mittlerweile haben Thomas Ehret und die gelernte Konditorin Cornelia Hofmann selbst ehrenamtliche Lehrlinge aus dem Dorf in Ausbildung.
Seitdem backen die Schleberodaer:innen alljährlich am ersten Adventswochenende über 100 Stollen in ihrem Backhaus. Der Ofen werde zudem zu Ostern für Osterbrote, zu Pfingsten für Speckkuchen, Brot und Pizza sowie zu großen Dorffesten für Kuchen angeheizt, zählt Karin Reglich auf, denn „der Ofen muss regelmäßig benutzt werden, sonst geht er kaputt.“ Der Ofen wird vom Gemeindebäcker vorgeheizt, während Cornelia Hofmann die Brote, Kuchen oder Stollen formt. „Zum Backen – etwa anderthalb Stunden dauert das – will der Bäcker aber allein sein“, erzählt Karin Reglich, „da muss man sich nämlich wirklich auf die Temperatur und die Backwaren konzentrieren. Das kann er nicht haben, wenn Leute dann quatschen.“ Sowieso hat das Schleberodaer Backhaus in der Vorweihnachtszeit Hochkonjunktur. Die Abwärme nach dem großen Stollenbacken reicht den Kindern im Dorf aus, um Plätzchen zu backen. Am dritten Advent veranstalte die Kirche den „kleinsten Weihnachtsmarkt Sachsen-Anhalts“ in dem nur 20 Quadratmeter großen Backhaus, erzählt Karin Reglich.
„Der einzig verbliebene soziale Treffpunkt war der Friedhof.“
150 Menschen wohnen in Jahmo. Das Straßendorf, das rund zehn Kilometer nördlich von Wittenberg direkt an der Grenze zu Brandenburg liegt, hat nicht mal einen Wikipedia-Artikel. Wenn die Jahmoer:innen Brötchen oder Kuchen kaufen wollen, müssen sie in die Kreisstadt fahren oder zur Tankstelle nach Kropstädt, erzählt Doreen Berger, Vorsitzende des Jahmoer Fördervereins. Sie sitzt mit ihren Vereinskolleg:innen Willy Wittig, Thomas Suchan, Christa Kettner und dem Hund Lenny im Garten des Vereinshauses. Es gibt Kaffee und Kuchen.
Wegen der schlechten Nahversorgung planen die Ehrenamtlichen des Jahmoer Fördervereins einen Dorfladen zu etablieren. Die Landtagsfraktion der Grünen in Sachsen-Anhalt unterstützt ihr Vorhaben mit einer professionellen Beratung. Der Unternehmensberater Wolfgang Gröll vom Dorfladen-Netzwerk, das schon über 100 Dorfläden in ganz Deutschland beraten und aufgebaut hat, wird Jahmo und zwei weitere Orte besuchen. „Als nach der Wende nach und nach der Gasthof, der Konsum und das Freibad geschlossen wurden, war der Friedhof der einzige noch verbliebene soziale Treffpunkt in Jahmo“, erinnert sich die gebürtige Jahmoerin. Dieser Missstand weckte den Tatendrang. 2004 gründete sie mit anderen Bewohner:innen des Dorfes den Förderverein Jahmo. Zwei Jahre später riefen sie das Backofenfest ins Leben, das seitdem jährlich gefeiert wird. „Wir wollten nicht einfach irgendein Dorffest feiern, sondern an alte Handwerkstraditionen in unserem Dorf anknüpfen“, erzählt die Jahmoerin. Eine alte Wassermühle am Ortsausgang brachte dann schließlich die Inspiration für das Backofenfest. Und den unbestrittenen Mittelpunkt des neuen Festes, den Backofens, bauten die Vereinsmitglieder kurzerhand selbst – auf dem Hof ihres Vereinshauses „Erna“.
„Die Stollenplätze im Ofen des Schleberodaer Backhauses werden nicht ver-geben, sondern vererbt.“
Während Backtraditionen in Jahmo völlig neu entwickelt wurden und vielen schnell ans Herz gewachsen sind, geht es in Schlebero-da immer auch darum, die alten Traditionen des Dorfes mit der modernen Welt zu vereinbaren. „Kuchen aus unserem Backhaus schmeckt einfach anders, besser, als wenn man ihn zuhause im Elektro-oder Gasofen backt“, ist sich Karin Reglich aus Schleberoda sicher, „und es hat etwas Verbindendes, wenn alle Familien im Dorf in der Adventszeit ihre nach eigenem Familienrezept zubereiteten Stollen essen, die aber alle im selben Ofen gebacken wurden.“ Pro Backgang passen nur etwa 20 bis 24 Stollen in den Ofen. Deshalb könne man auch nicht einfach so mit seinem Stollenteig auftauchen, macht Karin Reglich deutlich: „Die Plätze für Stollen im Ofen des Schleberodaer Backhauses sind fest vergeben und werden höchstens vererbt.“ Eine Backgebühr gibt es heute immer noch. Wegen der Energiekrise ist der Pfennigbetrag von früher inzwischen auf drei oder vier Euro angestiegen. „Aber die Leute bezahlen es gern“, ergänzt Karin Reglich.
Die Heimatvereinsmitglieder haben das historische Gebäude in der Dorfmitte vor 6 Jahren mit LEADER-Fördermitteln, vielen Helferinnen und vielen Arbeitsstunden in Eigenleistung aufwendig saniert. Der Zementputz aus DDR-Zeiten wurde abgetragen und durch Lehm, das historische Baumaterial, ersetzt. Außerdem wurde die gesamte Elektrik neu gemacht. Die Außenfassade des Backhauses hat das ganze Dorf gemeinschaftlich instandgesetzt und einige Anbauten aus DDR-Zeiten wurden entfernt. „Das Backhaus ist für unser Dorf ein sehr identitätsstiftender Ort. Dadurch, dass wir die Tradition des Stollenbackens in all den Jahren nur ein einziges Mal haben ausfallen lassen, ist sie für Schleberoda unglaublich wichtig“, erzählt Karin Reglich, die selbst in dem 170-Seelen-Ort aufgewachsen ist.
Dieser Aspekt ist wohl einer der Hauptgründe, warum das Backen in all seinen unterschiedlichen Formen trotz rückläufiger Bäckereizahlen in Sachsen-Anhalt ein Revival erlebt. Denn durch das gemeinsame Backen und das Engagement, das die Tätigkeit vielerorts – womöglich in historischen Gebäuden – ermöglicht, entsteht ein Zusammengehörigkeitsgefühl, eine neue Vielfalt, die sich viele Ehrenamtliche für ihre Orte wünschen. Das Jahmoer Vereinshaus, auf dessen Gelände ein Dorfladen entstehen soll, ist ein ehemaliger Schweinestall am Dorfeingang. Nachdem die Vorbesitzerin Erna Theimer – ein Jahmoer Original – gestorben war, hat Doreen Berger das Gebäude mit privaten Mitteln gekauft und in einen gemütlichen Treffpunkt für das ganze Dorf umgestaltet. Mit einem Wintergarten auf der einen, einem preisgekrönten Vorgarten und dem malerischen Innenhof samt Backofen auf der anderen Seite, ist das Vereinshaus auf den ersten Blick fast zu wohnlich, um es auf Anhieb als solches zu erkennen. Die Erinnerung an die ebenso bekannte, wie beliebte Vorbesitzerin haben die Vereinsmitglieder beibehalten, sodass man sich heute noch „bei Erna“ trifft, wenn man ins Vereinshaus geht.
Das Jahmoer Backofenfest hat sich inzwischen zum wahren Publikumsmagneten gemausert. Rund 500 Besucher:innen erwarten die Vereinsmitglieder, wenn das Fest in diesem Jahr am 2. September wieder stattfindet. Um halb 5 Uhr morgens fangen zwei Bäcker mit dem Backen an: Jahmoer Kartoffelkuchen (siehe unten), Stullen und geräucherter Fisch stehen an diesem Samstag auf der Speisekarte. Außerdem bieten regionale Kunsthandwerker:innen ihre Waren an und die älteren Leute tanzen zu Blasmusik. Dass es in Jahmo einen Ort gibt, an dem solche Feste stattfinden können, strahlt positiv auf das Dorfleben aus, sind sich Doreen Berger und ihre Vereinskolleg:innen sicher: „Es sind einige junge Familien ins Dorf gezogen“, erzählen sie, „was uns sehr freut. Wir haben aktuell keinen Leerstand in Jahmo.“ Fast wie bestellt, läuft nur wenige Minuten später eines der Nachbarskinder auf das Grundstück, um mit dem Hund Lenny zu spielen. Menschen verschiedener Generationen im Dorf zusammen zu bringen ist den überwiegend älteren Vereinsmitgliedern eine Herzensangelegenheit. Auf der Wiese hinter dem Vereinshaus stehen zwei Bauwagen, die die Jugendlichen des Dorfes als Treffpunkt nutzen können. „Bei Erna“ im Obergeschoss stehen ein Billardtisch und eine gemütliche Sofaecke mit Fernseher. „Wir haben Nachwuchsprobleme in unserem Verein“, gibt Thomas Suchan zu. Wenn es um die Nutzung von sozialen Medien zur Bekanntmachung ihrer Vereinsaktivitäten geht, wird das zum Problem: „Da könnten wir Hilfe von jungen Leuten gut gebrauchen.“
Ob im Dorfladen oder im Backhaus, dem Bäcker an der Ecke oder im Sortiment großer Bäckereien und Konditoreien – in allen Ecken Sachsen-Anhalts entstehen neue Orte, an denen Menschen sich treffen, um gemeinsam zu backen. In Schleberoda sorgt das Backhaus für ein Gemeinschaftsgefühl im Dorf. Alte und moderne Traditionen rundum Back- und Süßwaren können – wie in Jahmo – Alt und Jung oder – wie im Fall der Tangermünder Nährstange und des Salzwedeler Baumkuchens – Einheimische und Gäste zusammenbringen. Und vielleicht ist es das, mehr noch als das schwierig zu fassende „deutsche Brot“, woran sich Auswanderer wie Bertolt Brecht gern erinnern: das Gemeinschaftsgefühl und die Momente, in denen viele zusammenkommen, die beim Essen und Naschen entstehen.
Jahmoer Kartoffelkuchen – Art Oma Sophie
Für den Teig: 1 Kilo Mehl 15 Gramm (frische) Hefe 250 Gramm Margarine 5 Eier 1 Prise Salz 1 handvoll Zucker 450 Gramm gekochte Kartoffeln zerquetschen. Einen Teig kneten und aufmandeln (=ausrollen) und gehen lassen. Wenn der Kuchen fertig gebacken ist, mit heißer Butter bestreichen und Zucker bestreuen.