Zum Hauptinhalt springen

Artikel

Begegnung mit Ugo

Ausgabe

Sachsen-Anhalt-Journal - „Biografie“ (Nr. 3, 2023)

Ausgabe kaufen

Themen

Bibliothek & Lesestube Erinnerungskultur Geschichte Heimatforschung & Ortschronik Kunst & Musik

Charlotte Buchholz wurde 1952 im brandenburgischen Guben geboren. Ihre schriftstellerische Tätigkeit verbindet sie mit ihrem Urgroßvater Hermann Buchholz, der zu Anfang des 20. Jahrhunderts mehrere literarische Werke veröffentlichte. Für das Sachsen-Anhalt-Journal begegnet sie ihm zum Zwiegespräch.

Ein halbes Jahr standen sie nun schon als kleiner Stapel im Regal – die Bücher von Hermann Buchholz. Zwei Erzählungen, zwei Theaterstücke – das dritte war nicht aufzutreiben – und drei Lyrikbände. Der Nachlass meines Urgroßvaters, Lyriker und Stückeschreiber, tätig als Prokurist, später Direktor der Berlin-Gubener Hutfabrik. Die Bände fielen mir zu, als meine Mutter starb. Hermann Buchholz – ich kannte seinen Namen, hatte als Kind gehört, er habe Gedichte geschrieben, wusste, er war jung gestorben. Und doch – meine Neugier hatte das nicht geweckt. Nun gab es diesen Stapel als stumme Herausforderung. Ich blätterte in den Gedichtbänden – Abendklänge, Lebensfreude, Neue Gedichte – und konnte sie nicht mehr weglegen. Ich mag Gedichte. Diese wirkten auf mich wie aus einer fernen Welt, sprachen eine andere Sprache. Gaben die Erzählungen im Band Dissonanzen mehr her? Sie waren mir noch fremder. Dann die Theaterstücke Raphael und Goldrausch. In Goldrausch las ich mich fest, fand Parallelen zu Bankencrashs unserer Zeit, die mich überraschten. Freilich eilte man um 1900 mit dem Fahrrad durch die Stadt, zu retten, was zu retten war. Und doch erinnerte das Verhalten, erinnerten die Mechanismen durchaus an hektische Versuche unserer Zeit, Finanzströme nicht entgleisen zu lassen. Damit also setzte sich mein Urgroßvater schreibend auseinander? Nun griff ich noch einmal zu den Gedichten.

„Ich sterbe, wenn ich nicht mehr schreiben kann.“

Brigitte Reimann, Schriftstellerin (1933–1973)

Charlotte Buchholz war von 2020 bis 2023 Engagementbotschafterin in Sachsen-Anhalt.

Ich erinnerte mich an Sätze wie: Liest du die Gedichte eines Lyrikers, erzählt er dir alles aus seinem Leben. Du musst nur offen sein für das, was die Verse dir mitteilen möchten. Eine Woche später, das Fernsehprogramm gab nichts her, das aktuelle Buch hatte ich am Abend zugeklappt; jetzt ein neues anfangen? Kurz entschlossen warf ich den Computer noch einmal an und murmelte dabei: „Na, Urgroßvater hast du nicht Lust, mir etwas zu erzählen?“

Unser Gespräch drehte sich anfangs – wie konnte es anders sein – um das Schreiben, seines und meines. Natürlich hatte ich ihm von meinem Beruf als Journalistin erzählt und davon, dass ich nun im Ruhestand viel Zeit für mich habe, dass ich sehr gern literarisch schreiben möchte. Nicht mehr zu schreiben, konnte ich mir nicht vorstellen. Brigitte Reimann kam mir in den Sinn mit ihrem Satz, sie würde sterben, wenn sie nicht mehr schreiben könne. Fast vierzig Jahre habe ich journalistisch geschrieben; nun war es Zeit für Neues.

Hermann Buchholz, erfuhr ich, hatte feste Gewohnheiten. Er arbeitete diszipliniert, musste er doch die verantwortliche Tätigkeit in der Hutfabrik, das literarische Schreiben und die Anforderungen der Familie gut austarieren. Als ich ihm erklären wollte, dass wir Heutigen kaum noch etwas zu Papier bringen, das Wort Manuskript also einen Bedeutungswandel erfahren habe, musste ich mir seine strenge Frage gefallen lassen, ob ich nicht alles sauber und ordentlich in eine Kladde schreibe. Das war schon peinlich, weiß ich doch, dass ich nicht immer ordentlich bin im Schreiben. Diplomatisch versuchte ich abzulenken mit der Frage nach Wörtern, die heute fast ausgestorben sind. Er wiederum konnte mit mancher Erklärung von mir so gar nichts anfangen. Es war lustig, aber dann beschloss ich, die technischen Details auszusparen. Allerdings – ich hatte nicht mit seiner Neugier gerechnet, musste mir also Mühe geben, für ihn verständliche Schilderungen zu finden. Noch schwieriger, vermutete ich, würde es mit politischen Themen sein. Aber weit gefehlt. Über sein Theaterstück Goldrausch näherten wir uns schneller an als gedacht.

Nach und nach entstand eine seltsame Nähe. Je öfter ich ihn mit Urgroßvater ansprach, desto vertrauter wurde er mir, aber desto lästiger stellte sich mir dieses sperrige Wort in den Weg. Ich fragte ihn, ob ich Ugo sagen dürfe. Er stimmte zu und war fortan Ugo. Wir fachsimpelten über Abkürzungen, über Akronyme, darüber, wie stark sich der Wortschatz in einem Jahrhundert geändert hat und wie schnell sich unsere Sprache gegenwärtig wandelt. Selbstverständlich bestätigte er, seien ihm Akronyme geläufig. „Aber Urenkelin“, seufzte er, „sie waren zu meiner Zeit im Alltag wenig üblich. Ob ich mich wohl in deiner Sprachwelt zurechtfände?“ – Es gibt ein schönes Porträtfoto von ihm; ich stellte mir vor, wie in diesem Augenblick ein leises Lächeln seinen Mund umspielt.

Hermann Buchholz (1871 – 1917): Schriftsteller, Hutmacher und Urgroßvater von Charlotte Buchholz

Bei so viel Nähe traute ich mich nun doch, seinen frühen Tod mit 43 Jahren zu erwähnen. Ich erklärte ihm, es sei in meiner Familie selten über ihn gesprochen worden und wenn, dann nur hinter vorgehaltener Hand. Als Kind hatte ich mir wenig Gedanken darüber gemacht. Jetzt entstand in mir das Bild, wie Ugo nachdenklich den Kopf hin und her wiegt und die hohe, noch glatte Stirn angestrengt in Falten zieht. Darüber wolle er nicht sprechen, meinte er kurz und bündig. Die Vertrautheit, die im Gespräch zahlreiche feine Fäden gesponnen hatte, löste sich unmerklich auf. Es wurde kühler in meinem Rücken; ich sah hoch: Da war kein Ugo mehr. Die Begegnung endete so schnell, wie sie begonnen hatte.

Ugo blieb die sprichwörtliche Leiche im Familienkeller

Mehr als ein Jahr verging, bis ich so weit war, nach seiner Krankenakte zu forschen. Ja, erfuhr ich, da gebe es etwas. Doch nicht mehr in der Nervenheilanstalt Groß-Schweidnitz. Die Spur führte in das Staatsarchiv Dresden. Ich meldete meinen Besuch an, erhielt eine schmale Akte, vertiefte mich im Lesesaal in gespannter Erwartung darin und erhielt Auskunft über Einzelheiten seiner Erkrankung. Auch einige Zusammenhänge aus der Familiengeschichte erschlossen sich daraus: Wegen des schnell fortschreitenden Verlaufs der Erkrankung ihres Mannes – Syphilis war um 1900 eine Modekrankheit und Urgroßvater hatte es wohl besonders schwer erwischt – trennte sich seine Frau von ihm und zog zurück zu ihrer Familie nach Berlin. So kam es, dass von Hermann Buchholz zwar Fotos in meiner Familie weitergegeben wurden, aber weder Korrespondenz mit Dichterfreunden noch familiärer Briefwechsel oder Erzählungen erhalten geblieben waren. Mein Ugo blieb die sprichwörtliche Leiche im Familienkeller.

Ich habe ihn rehabilitiert, habe ihn liebgewonnen, Gemeinsamkeiten zwischen uns entdeckt, so die Schreibfreude und die Neugier, habe seinen Nachnamen mit meinem zweiten Vornamen verknüpft und schreibe nun als Charlotte Buchholz. Ich hätte mir gewünscht, ihm eher begegnet zu sein, vielleicht wäre mein Leben anders verlaufen, vielleicht hätte ich eher gespürt, wie lebensnotwendig mir das Schreiben ist? Und doch – ich kann auch jetzt noch etwas daraus machen, vielleicht sogar eines Tages noch einmal mit ihm sprechen.

Von 2020 bis 2023 war Charlotte Buchholz, die seit 1984 in Magdeburg lebt, auf Vorschlag des Friedrich-Bödecker-Kreises in Sachsen-Anhalt e.V. Engagementbotschafterin auf dem Gebiet der Förderung der Literatur. Ihre jüngsten Veröffentlichungen sind die Kurzgeschichtensammlung „Wenn die Welle sich legt“, die 2020 im BLOCK Verlag erschienen ist, und ihr Almanach für Seniorinnen und Senioren der Stadt Magdeburg, „Herbstglitzern“, der vom MikrokulturFonds des Landesheimatbunds Sachsen-Anhalt gefördert wurde und 2023 im Dorise Verlag erschienen ist.