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Baum, Kreuz, Kranz und Quasten

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Sachsen-Anhalt-Journal - „Ritual“ (Nr. 4, 2023)

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Themen

Fest & Tradition Geschichte

Die Bewohner:innen des Dorfes Questenberg im Südharz pflegen seit Jahrhunderten ein Ritual, dass der Forschung Rätsel aufgibt. Jedes Jahr zu Pfingsten schmücken die Mitglieder des Questenvereins die Queste – einen zehn Meter hohen Baumstamm mit Kreuz, Kranz und Quasten auf dem gleichnamigen Berg – mit neuem Birkengrün.

Seit vielen Jahrhunderten prägt eine Tradition maßgeblich das öffentliche Leben in dem kleinen Ortsteil Questenberg der Gemeinde Südharz. Jedes Jahr findet hier zu Pfingsten das Questenfest statt, bei dem die Mitglieder des Questenverein Questenberg e.V. am Pfingstmontag die Queste mit frischem Birkengrün schmücken. Die Queste ist ein fast zehn Meter hoher, aufgerichteter und entrindeter Eichenstamm, an dem ein Kranz von rund drei Metern Durchmesser hängt, den ein Querbaum mit angehängten Laubbüscheln, den Quasten, mittig teilt. So entsteht das Bild eines Kreuzes mit einem Kreis im Schnittpunkt der Arme. Die Stammspitze krönt der aufgesteckte sogenannte Lebensbusch. Der Stamm steckt in einer in den Felsen eingeschlagenen Vertiefung und ist mit Keilscheiten arretiert. Er wird nach durchschnittlich zehn Jahren ausgewechselt, der Schmuck aus frischem Birkengrün jährlich erneuert.

Questenberg liegt mitten im landschaftlich sehr reizvollen Südharzer Karstgebiet und gehört zu den schönsten Orten im Biosphärenreservat Karstlandschaft Südharz. Mit seinen vielen Denkmalen und der reichen Geschichte hat er einen hohen Stellenwert in der Kulturgeschichte der Region. Die Einwohner:innen sind stolz auf ihren Ort. Die Mitglieder des Questenvereins kümmern sich neben der Queste auch um den hölzernen Roland in der Dorfmitte: Im Winter bauen sie den Spritzschutz auf und spülen zu Pfingsten den Staub ab.


Die Queste gibt es in dieser Form wohl nur einmal in Deutschland. Unübersehbar ragt sie auf einem 80 Meter hohen Gipsfelsen in den Himmel. Von ihrem Fuß aus hat man einen weiten Blick über die Questenberger Hausdächer, den Kirchturm und die landschaftsprägenden Buchenwälder. Nach Osten hin öffnet sich das Hainröder Tal bis zum Horizont. Dieser freie Blick spielt eine wichtige Rolle beim Ritual des Questenschmückens. Während der Morgendämmerung nehmen die Questenmänner den Kranz und den Lebensbusch von der Spitze des Questenstammes ab und legen ihn vor dessen Fuß nieder. Eine Arbeit, die bei jedem Wetter stattfindet und viel Kraft und Geschick erfordert.

Die Ursprünge des Rituals und der Queste sind nicht umfassend erforscht

Wenn die Sonne am Pfingstmontagmorgen über dem Hainröder Tal aufgeht, begrüßen die Einwohner:innen und Besucher:innen des Ortes sie mit dem Choral „Dich seh ich wieder, Morgenlicht!“. Anschließend nehmen die Questenmänner, im Kranz sitzend, das sogenannte Morgenmahl aus Stietzel und rohem Sauerkraut ein. Am Nachmittag desselben Tages ziehen die Vereinsmitglieder im Festumzug durch die Straßen des Ortes erneut den Berg hinauf zur Queste. Dort schmücken sie den Kranz und die Quasten mit frischem Birkengrün und befestigen sie wieder in luftiger Höhe am Stamm. Traditionell erledigen nur die Männer des Vereins diese Aufgaben.

Die Anfänge und der Inhalt des Questenfestes sind bis heute nicht umfassend erforscht. Die Quellen dazu sind sehr rar. Um 1870 fand der Heimatforscher Karl Meyer früheisenzeitliche Keramikscherben in der Wallanlage um die Queste und vermutete, dass es sich beim Questenfest um einen vorchristlichen heidnischen Kult handele. Diese Annahme hatte zur Folge, dass das Questenfest in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts politisch instrumentalisiert wurde. In den 1930er Jahren wurde die Queste als germanisches Symbol umzudeuten versucht. Auch zur Zeit der DDR erfuhr das Fest neue politische Interpretationen. Heute verwahren sich die Questenberger:innen gegen jegliche Einmischung und Beeinflussung durch Dritte.

Vor Jahrhunderten noch ausschließlich der männlichen Jugend vorbehalten, führen die Mitglieder des 1991 gegründeten Questenvereins Questenberg die Tradition des Questenschmückens fort. Aufbauend auf der Tradition des Festes, welches zu Himmelfahrt beginnt und an Pfingsten endet, haben sich bereits vor der Wende vereinsähnliche Strukturen im Ort gebildet und im Laufe der Zeit bewährt. Es gab einen sogenannten Questenausschuss unter dem Vorsitz des jeweiligen Bürgermeisters. Die Aufgaben dieses Ausschusses übernimmt seit 1991 der Vereinsvorstand. Die Initiative zur Vereinsgründung ging damals maßgeblich von Edgar Einecke, Friedrich und Kurt Jödecke aus. Der Questenhauptmann und der Feldwebel der Questenkompanie wurden in den neuen Verein übernommen. Ihre Aufgabe sind die Festumzüge. Jedes Vorstandsmitglied hat eine festgelegte Rolle, um den reibungslosen Ablauf des Questenfestes zu gewährleisten. Besonders wichtig ist dabei die Traditionspflege.

Der von der Gemeinde gepachtete Festplatz des Ortes mit der großen Festhalle und den Nebenanlagen ist das Vereinsdomizil. Hier finden alle wichtigen Zusammenkünfte, wie Feiern und Wahlen, sowie Tagungen und Vorträge statt. 2019 fand in enger Zusammenarbeit mit der Verwaltung des Biosphärenreservats, dem Landesheimatbund und dem Heimat- und Geschichtsverein Goldene Aue e.V. erstmals in der Vereinsgeschichte eine wissenschaftliche Tagung zum Thema Questenfest statt. Dazu erschien ein Tagungsband mit sämtlichen Beiträgen.

Der Festumzug zieht zweimal durch das Dorf Questenberg – einmal in der Morgendämmerung und ein weiteres Mal am Nachmittag.

Wichtiger Bestandteil der Vereinsarbeit ist die Gewinnung von neuen Mitgliedern. Der demografische Wandel hat auch in Questenberg deutliche Spuren hinterlassen. Die aktuelle Mitgliederzahl beträgt 62 Personen, darunter 49 Männer und 13 Frauen. Die Aufnahme von neuen Mitgliedern erfolgt öffentlich am Pfingstsonntagabend zum Zapfenstreich. Verdienstvolle Mitglieder und Unterstützer:innen des Vereins werden seit 2003 mit der Questenmedaille geehrt. Der Vorsitzende Norbert Volknandt steht seit fünfzehn Jahren an der Spitze des Vereins und ist gleichzeitig Ortsbürgermeister von Questenberg. Im Jahresplan des Vereins stehen neben dem Questenfest noch weitere Veranstaltungen: Die Vereinsmitglieder organisieren jedes Jahr zusätzlich ein Sommerfest und eine Weihnachtsfeier.

Der Stamm wird nur durchschnittlich alle zehn Jahre ausgewechselt.