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Aufgestanden für Ruinen

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In wenigen deutschen Städten ist die historische Bausubstanz heutzutage so gut erhalten, wie in Stendal. Das ist alles andere als selbstverständlich: Kurz nach der Wende waren viele denkmalgeschützte Gebäude verfallen und sollten modernen Neubauten weichen. Eine neue Ausstellung widmet sich dem Protest der Stendaler Bevölkerung, der den Abriss verhinderte.

„Passen Sie auf mit Ihrem Kopf“, warnt Rüdiger Laleike gleich, nachdem er die Haustür öffnet. Der Grafikdesigner im Ruhestand bewohnt ein Fachwerkhaus an der Stendaler Petrikirchstraße, in dem die Decken nur knapp über zwei Meter hoch sind. Das historische Gebäude steht in der Stendaler Altstadt, die heutzutage als förmlich festgelegtes Sanierungsgebiet „Altstadt-Stendal“ einen flächendeckenden Denkmalschutz genießt. Das war aber nicht immer so.

„Ende der 1980er Jahre war Stendal im Grunde eine geteilte Stadt“, erklärt Rüdiger Laleike: „Als Wohnraum für die Arbeiter des geplanten Atomkraftwerks in Arneburg wurden Mitte der 1980er Jahre das hypermoderne Stadtseegebiet und die Neubausiedlung Stendal-Süd mit ihren teilweise bis zu elfgeschossigen Plattenbaublöcken gebaut, während die Altbausubstanz in der Stendaler Innenstadt stark verfiel.“ Wer irgendwie kann, zieht damals in eine der Neubauwohnungen, die ihren Mieter:innen bis dahin ungekannten Komfort bieten. Für die Instandsetzung der Altbauten in der Innenstadt ist hingegen kein Geld da. Viele Häuser stehen leer, teilweise seit Jahrzehnten. In der Stendaler Stadtverwaltung gibt es seit Langem Pläne, große Teile der historischen Altstadt abzureißen und ebenfalls durch Neubauten zu ersetzen: ein Umbau zur sozialistischen Stadt.

Vier sind’ne Kette: Anna-Luise Bausch, Rüdiger Laleike, Günter Mey und Petra Drescher (v.l.n.r.) in der Stendaler Petrikirchstraße

„Viele Häuser waren unbewohnbar. Es war wirklich 5 vor 12.“

Petra Drescher über den Zustand der Stendaler Altstadt

Rüdiger Laleike wohnt zu der Zeit in der Bahnhofsvorstadt – einem gründerzeitlichen Wohnquartier, dessen Substanz noch verhältnismäßig intakt ist – und arbeitet in einem Atelier in der Hohen Bude, nur einen Steinwurf von seinem heutigen Wohnhaus entfernt. Petra Drescher, die inzwischen seine Nachbarin in der Petrikirchstraße ist, wohnt in der Wendezeit ebenfalls im Bahnhofsviertel. Sie zieht 1986 als junge Frau von Leipzig nach Stendal und ist erst gar nicht begeistert von der Stadt in der Altmark: „Es war so finster hier, kaum Straßenbeleuchtung. Auch tagsüber gab es nur die Farbe Grau“, fasst sie ihren ersten Eindruck zusammen. Als sich nach dem Fall der Mauer die Chance bietet, Stendal in jeglicher Hinsicht bunter zu machen, lässt sie sich deshalb schnell von der Aufbruchstimmung mitreißen. „Im Stendaler Dom lagen Listen vom Neuen Forum aus, in die ich mich eingetragen habe. Innerhalb des Neuen Forums haben wir dann verschiedene Arbeitsgruppen gegründet, die es sich zum Ziel gesetzt haben, die DDR von innen heraus zu verbessern“, erzählt sie. Sie entscheidet sich für die Arbeitsgruppe Altstadt, die sich den Erhalt der historischen Innenstadt vornimmt. Keine leichte Aufgabe, wie sich die Aktivist:innen schnell eingestehen müssen: „Die nördliche Altstadt war in einem desolaten Zustand. Viele Dächer hatten Löcher, überall bröckelte der Putz, viele Häuser waren nach heutigem Standard unbewohnbar. Es war wirklich 5 vor 12“, beschreibt sie die schwierige Ausgangslage. In dem Bereich der mittelalterlichen Stadt innerhalb der Wallanlagen leben kurz vor der Wende nur noch 1.500 Menschen. In den Jahren der DDR ist es für private Hauseigentümer fast unmöglich, ihre Immobilie in Schuss zu halten. „An Baumaterialien und Handwerksleistungen kam man auf offiziellem Wege schwer heran“, ergänzt Rüdiger Laleike.

Doch nicht nur finanzielle und materielle Hürden stehen der Sanierung der Altstadt im Weg. Die Kommunikation mit den Behörden gestaltet sich ebenfalls schwierig, erinnert sich Petra Drescher: „Selbst der Denkmalschutz war gegen uns. Die offiziellen Stellen haben es so dargestellt, dass wir – komme, was wolle – lebenswerte Wohnverhältnisse in Stendal verhindern wollen, was natürlich nicht stimmte.“ Bei vielen alten Häusern, die während der DDR-Zeit ins Volkseigentum übergangen sind, müssen nach der Wiedervereinigung zunächst die Eigentumsverhältnisse geklärt und etwaige Rückübertragungsansprüche ausgeräumt werden, bevor irgendwer anfangen kann zu sanieren – nicht selten ein Prozess, der sich über Jahre hinzieht.

Angesichts des steinigen Weges, der vor ihnen liegt, ist der Arbeitsgruppe Altstadt schnell klar, dass sie die öffentliche Meinung auf ihre Seite ziehen müssen, um schlussendlich gegenüber den Abrissbefürworter: innen den längeren Atem zu haben. Deshalb laden die Aktivist:innen die Stendaler Stadtbevölkerung zu einer Podiumsdiskussion in den Rathaussaal ein. Ein Erfolg auf ganzer Linie, wie sich herausstellt: „Der Große Saal war voll“, erinnert sich Petra Drescher, „und dann haben wir die da oben fertiggemacht.“ Die Aktivist:innen spüren, dass sie ein Momentum haben und wollen die Debatte auf die Straße tragen: In einer Menschenkette sollen die Stendalerinnen und Stendaler ihre Altstadt umarmen und im übertragenen Sinne beschützen vor der drohenden Abrissbirne. Am 7. Februar 1990 versammeln sich schließlich rund 400 Menschen für die Protestaktion in den Straßen nördlich des Marktplatzes, und nehmen sich an die Hände – es reicht nicht, wie ursprünglich angedacht, um die gesamte Stendaler Innenstadt zu umschließen, denn für die 4 Kilometer Distanz hätten mindestens 2.500 Menschen mit sehr langen Armen auf die Straße gehen müssen. Nichtsdestotrotz sind es eindrückliche Bilder, die Rüdiger Laleike an diesem Tag mit seiner Kamera festhält. Bilder, die – wie so viele aus der Zeit – illustrieren, dass man mit friedlichem Protest Berge bewegen und Abrissbagger zum Stillstand zwingen kann. Eines zeigt Petra Drescher, wie sie mit einem Megafon zu der Menge spricht. Vor ihr hält eine junge Mutter ein Schild hoch mit der Forderung „Lasst die Altstadt leben!“ Ein weiteres Foto zeigt einen etwas verloren wirkenden Volkspolizisten, der ein Protestschild an einer Hauswand betrachtet. „Die Demonstration war nicht bei den Behörden angemeldet“, erinnert sich Petra Drescher an den rebellischen Geist der Bewegung: „Wir haben die Volksstimme informiert, Handzettel verteilt und überall in der Stadt Plakate aufgehängt. Als absehbar war, dass eine beträchtliche Anzahl Menschen kommen würde, wurden die SED-Bonzen immer stiller. Und die Vopos, die da waren, trauten sich auch nicht mehr viel.“

Das Banner „Fachwerk statt Kraftwerk“ auf einem weiteren Foto verweist auf die gleichzeitig aktive Klima- und Friedensbewegung, die sich gegen die Inbetriebnahme des Arneburger Atomkraftwerks engagiert. Auch ihr Anliegen wird Erfolg haben: Die Bauarbeiten werden im März 1991 eingestellt. An vielen Orten und in vielen gesellschaftlichen Bereichen bilden sich in der Zeit Gruppen, die sich für ihre Vision eines besseren Staates einsetzten. Vieles scheint plötzlich möglich. „Das ging ja alles Schlag auf Schlag“, fasst Rüdiger Laleike den Zauber der Wendezeit zusammen. Als eine „so intensive Zeit“ beschreibt Petra Drescher die 11 Monate zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung.

Plädoyer für ein neues Neues Forum

Die hohe Schlagzahl des vielfältigen bürgerschaftlichen Engagements kurz vor und während der Wendezeit in Stendal darzustellen, hat sich nun ein multimediales und partizipatives Ausstellungsprojekt der Stendaler Hochschule vorgenommen: Es trägt den doppeldeutigen Titel wi(e) der-sprechen! Stendal 89/90 und soll am diesjährigen Tag der Deutschen Einheit eröffnet werden. Günter Mey, Professor für Entwicklungspsychologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal, hat bereits mehrere interdisziplinäre Ausstellungen umgesetzt, die gesellschaftliche, historische und kulturelle Themen mit Bezug zu Stendal und der Altmark aufgreifen, darunter Ausstellungen zur Jugendkultur in der Zeit der DDR und Künstler:innen in der Altmark.

Die Zeit sei nun reif für eine Wende- Ausstellung, ist er sich sicher: „Genauso wie damals befinden wir uns heutzutage in einer Situation, in der wir uns als Gesellschaft fragen müssen: ‚Wie verhandeln wir Demokratie?‘ und ‚Was bedeutet uns unsere Freiheit?‘“ Es sei gerade vieles massiv im Umbruch begriffen, sorgt sich der Entwicklungspsychologe. Die AfD probiere ihm zufolge die Symbole der friedlichen Revolution in der DDR, wie beispielsweise die Montagsdemonstrationen oder die Parole ‚Wir sind das Volk‘ inhaltlich zu besetzen und so die Deutungshoheit über das Wendezeit-Narrativ zu erlangen. Es diskreditiere den großen Mut der DDR-Bürgerinnen und -Bürger, wenn sich AfD-Politiker:innen rhetorisch das Gewand der DDR-Protestbewegung überwerfen, obwohl sie sämtliche Freiheiten einer liberalen Gesellschaftsordnung genießen: „Die dürfen doch rumbrüllen, so viel sie wollen – weil unser Grundgesetz es ihnen zusteht“, so Mey.

„Wir müssen uns doch aber fragen: Ist es ein Freiheitsgewinn für uns als Gesellschaft, wenn gewählte, aber antidemokratische Kräfte die individuellen Freiheiten einzelner Gruppen massiv einschränken?“ Er plädiert für einen neuen Runden Tisch oder ein neues Neues Forum, die die Gestaltung der Demokratie wieder aktiv in die Hand nehmen. „Das Engagement der Menschen in Stendal hat mich tief beeindruckt“, ergänzt Anna-Luise Bausch, die neben Alina Langer und Fatou Rogalski als eine von drei Studentinnen an dem Ausstellungsprojekt mitarbeitet: „aber ich bin auch ernüchtert, dass sich dieses unglaubliche Potenzial heute nicht mehr in der Stadt wiederspiegelt.“

Die junge Frau ist für einen Studienplatz der Rehabilitationspsychologie nach Stendal gezogen – es ist das erste Mal, dass sie in Ostdeutschland wohnt. Vor ihrem Umzug habe es in ihrem Leben in Süddeutschland kaum Berührungspunkte mit dem Osten gegeben, gibt sie zu: „Ich habe mir, ehrlich gesagt, einfach wenig Gedanken dazu gemacht. Aber durch dieses Projekt hat sich mein Blickwinkel verändert.“ Sie bewundere, dass die Menschen in der DDR damals alles aufs Spiel gesetzt haben für die Demokratie. „Mütter haben beispielsweise Vorbereitungen getroffen, was mit ihren Kindern passieren soll, falls sie wegen ihrer Teilnahme an einer Demonstration festgenommen werden und nicht zurückkommen“, ergänzt Günter Mey: „Und auch nach der Wende waren die Verunsicherungen und Herausforderungen groß: Es gab kaum eine Familie, in der es keinen Bruch gab.“

Anna-Luise Bausch wünscht sich, „dass sich die Menschen durch die geplante Ausstellung gut repräsentiert fühlen und ihre Stimme finden gegen die antidemokratischen Strömungen unserer Zeit.“ Sie hoffe außerdem, ihre eigene Generation, die nach der Wende geboren ist, dazu zu ermutigen, gemeinsam Dinge anzustoßen: „Verbündet euch!“

Nach der Menschenkette im Februar 1990 verlieren die Abrisspläne an Zustimmung. „Das war ein schleichender Prozess“, sagt Petra Drescher rückblickend, „aber irgendwann war klar, dass der Abriss nicht weitergeht.“ Die Stadt verkauft noch im selben Jahr die meisten der baufälligen Häuser zu günstigen Preisen. Petra Drescher und Rüdiger Laleike wollen nun ihren eigenen Teil zur Altstadtsanierung beitragen, kaufen jeweils eine Immobilie in der Petrikirchstraße und werden Nachbarn. „Das Sanierungsgebiet wurde festgelegt und erste Fördermittel flossen schon“, so die 66-Jährige, die damals als Ingenieurin in der Wasserwirtschaft arbeitete. Rüdiger Laleike hat damals knapp über 10.000 DDR-Mark für sein Haus an der Petrikirchstraße bezahlt; Petra Drescher etwa die Hälfte.

Aus den Fehlern des Westens lernen

Das große Vorhaben der Innenstadtsanierung bekommt in der Folgezeit wertvolle Impulse aus Westdeutschland: „Unsere Partnerstadt Lemgo hat viel zu der Denkmalpflegediskussion beigetragen. Lemgo ist ebenfalls eine Fachwerkstadt, allerdings mit viel weniger Grünflächen, denen die Stadtplanung nach dem Zweiten Weltkrieg keine große Bedeutung beigemessen hat. Die Lemgoer:innen warnten uns deshalb vor einer zu großen Verdichtung in der Innenstadt“, erzählt Petra Drescher. Auch aus Niedersachsen, das Sachsen-Anhalt nach der Wende als Partnerland beim Aufbau der Verwaltung unterstützt, kommt Hilfe. Die schlussendliche Altstadtsanierung sehen Petra Drescher und Rüdiger Laleike trotzdem mit gemischten Gefühlen: „Es bleibt schon auch Kritik“, sind sich die beiden einig, „denn an vielen Stellen, wo es wirklich nicht nötig war, wurden auch nach der Wende noch Häuser abgerissen.“ Viele Baufirmen haben Abriss und Neubau weiterhin als alternativlos betrachtet, kritisiert Rüdiger Laleike rückblickend: „Das mussten die auch erst lernen. Viele haben es nie gelernt.“ Flächen, auf denen früher historische Häuser standen, seien nun Parkplätze. „Da hätte man sich mehr Mühe geben können“, fasst er zusammen.

Gestalter des Protests: Dieses Plakat hat Rüdiger Laleike entworfen.

Im Ausstellungszeitraum vom 3. Oktober bis zum 9. November 2024 sind unter dem Titel wi(e) der-sprechen! Stendal 89/90 die Projektergebnisse als multimediale Installationen an den vier Orten in der Innenstadt zu sehen, an denen sich die historischen Geschehnisse der Wendezeit abgespielt haben: das Stadthaus, der Marktplatz, die Altstadt und die Petrikirche. Die Ausstellungsmacher: innen haben zuvor persönliche Fotos und Erinnerungen der Stendalerinnen und Stendaler gesammelt und in die Ausstellung integriert. Während des Ausstellungszeitraums finden Dialogforen, Erzählcafés, Filme, Lesungen, Vorträge und Workshops in der ganzen Stadt verteilt statt.