Zum Hauptinhalt springen

Artikel

Auf himmlischen Wegen durch Sachsen-Anhalt

Ausgabe

Sachsen-Anhalt-Journal - „Ritual“ (Nr. 4, 2023)

Ausgabe kaufen

Themen

Bildung & Vermittlung Geschichte Heimatforschung & Ortschronik Heimatstube & -museum

Goseck, Nebra, Pömmelte und Langeneichstädt – die ungewöhnliche hohe Dichte bedeutender archäologischer Fundorte in Sachsen-Anhalt sucht ihresgleichen. Die Funde verraten uns eine Menge über das Leben der Menschen, die vor tausenden Jahren im heutigen Sachsen- Anhalt gelebt haben, ihren Alltag, besondere Rituale und ihre Vorstellung vom Himmel.

Bereits vor Jahrtausenden lebten Menschen hier in der Gegend, die ihren Blick in den Himmel richteten und den Verlauf von Sonne, Mond und Sternen beobachteten. Ihr Jahreslauf war durch Feste und Rituale gegliedert, und sicher hatten sie Glaubens- und Jenseitsvorstellungen, die ihre Handlungen beeinflussten. Auch wenn es uns aufgrund des Fehlens schriftlicher Quellen nicht möglich ist, den Ablauf dieser Feste und Riten und die dahinterstehenden Glaubensvorstellungen im Detail zu fassen und zu beschreiben, so ist Sachsen-Anhalt doch reich an archäologischen Funden, die zumindest Einblicke in die geistige Welt unserer Vorfahren erlauben.

Ein Objekt von faszinierender Ästhetik: die Himmelsscheibe
von Nebra

Das Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle ist die Heimstatt eines Kleinods, das, wie seine Aufnahme in das Weltdokumentenerbe der UNESCO zeigt, zu den bedeutendsten Zeugnissen der Menschheitsgeschichte gehört und unser Bild von einer ganzen vorgeschichtlichen Epoche, der frühen Bronzezeit vor über 3.600 Jahren, revolutioniert hat: die Himmelsscheibe von Nebra. Die krimireife Geschichte ihrer Auffindung und illegalen Ausgrabung sowie ihrer Sicherstellung durch die Schweizer Polizei und der anschließenden Rückführung nach Sachsen-Anhalt ging um die Welt. Denn die über 3.600 Jahre alte und über 2 Kilogramm schwere, annähernd runde Bronzescheibe von etwa 32 Zentimetern Durchmesser ist die weltweit älteste Darstellung konkreter Himmelsphänomene. Sie verrät uns nicht nur, dass die Schöpfer der Scheibe ihren Blick in den Nachthimmel richteten und Objekte von noch heute faszinierender Ästhetik anfertigen konnten, sondern auch, dass die Menschen vor 3.600 Jahren bereits weitreichende Handelsbeziehungen nach ganz Europa unterhielten. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben herausgefunden, dass die Metalle, aus denen die Himmelsscheibe besteht, aus dem heutigen Österreich und England stammen.

Mitte des zweiten Jahrtausends vor Christus begruben Menschen die Himmelsscheibe auf dem Plateau des Mittelbergs bei Nebra.

Zunächst zeigte die ursprünglich nachtdunkle Scheibe – ihre heutige grüne Färbung ist das Ergebnis von Korrosion durch die Lagerung im Erdboden – einen Sichelmond, einen Vollmond, der auch als Sonne gelesen werden kann, sowie 32 meist zufällig auf der Scheibe verteilte Sterne. Die einzige konkrete Sternenkonstellation stellt eine Gruppe von sieben Sternen zwischen Voll- und Sichelmond dar, bei denen es sich um das Siebengestirn der Plejaden handelt.

Astronomisches Wissen aus dem Vorderen Orient kam nach Mitteldeutschland

In dem Bild der Plejaden zwischen Voll- und Sichelmond erkennen Bauern der Frühbronzezeit symbolisch den Frühling als Zeit der Aussaat und den Herbst als Zeit der Ernte. Darüber hinaus ist in der Himmelsscheibe eine komplexe Schaltregel codiert, anhand derer der Besitzer der Himmelsscheibe – vielleicht einer der „Fürsten“ der frühen Bronzezeit, die sich mit prächtigen Beigaben in monumentalen Grabhügeln bestatten ließen? – erkannte, dass das kürzere Mond- und das längere Sonnenjahr nicht mehr im Einklang miteinander waren und ein Schaltmonat eingefügt werden musste. Das Wissen um diese Regel, das die Menschen dieser Zeit nur durch jahrzehntelange Himmelsbeobachtung und schriftliche Überlieferung erlangen konnten, kam wahrscheinlich aus dem Vorderen Orient nach Mitteldeutschland. Gelehrte in Babylon haben dieselbe Schaltregel über 1.000 Jahre nach der Entstehung der Himmelsscheibe im sogenannten Mul’apin, einem Keilschrifttext aus dem 7. Jahrhundert vor Christus, aufgeschrieben. Zusammen mit den Materialien – der zu dieser Zeit in Mitteldeutschland noch neuen Bronze und dem wertvollen Gold – weist dieses Wissen die Himmelsscheibe als das Eigentum und wahrscheinlich auch die Erfindung eines Menschen aus, der sich mit Hilfe eines besonderen Statusobjektes als Herr über die Zeit inszenieren wollte. In welcher womöglich ritualisierten Form diese Inszenierung erfolgte, lässt sich aus den uns verfügbaren Quellen nicht erschließen.

Die Arche Nebra

Die Arche Nebra, das Sonnenobservatorium Goseck, das Ringheiligtum Pömmelte, das Grab der Dolmengöttin und das Landesmuseum für Vorgeschichte Halle (Saale) gehören zu der touristischen Route Himmelswege, die einmalige archäologische Funde und Befunde von internationaler Bedeutung miteinander verbindet. Einwohnerinnen und Einwohner Sachsen-Anhalts lädt sie ebenso wie auswärtige Besucherinnen und Besucher dazu ein, die reiche und faszinierende Vorgeschichte des Landes mit Blick auf den Himmel zu erkunden.

Das Sonnenobservatorium Goseck ist etwa 7000 Jahre alt.

Sonnenobservatorium Goseck und Ringheiligtum Pömmelte
waren Orte der Feste, Speisen und rituellen Handlungen

Die Himmelsscheibe selbst gibt allerdings den Hinweis darauf, dass spätere Generationen dieses komplexe Wissen entweder verloren oder nicht mehr für wichtig erachtet haben. Zwei nachträglich angefügte randliche Goldbögen, von denen einer heute verloren ist, veränderten die Aussagekraft der Himmelsscheibe entscheidend: Die Endpunkte dieser Bögen markieren die Sonnenauf- und -untergangspunkte zur Sommer- und Wintersonnenwende. Die Bögen selbst zeichnen also den Weg der Sonne zwischen dem kürzesten und dem längsten Tag des Jahres nach. Dies verbindet die Himmelsscheibe mit einem Monument, das Menschen der Jungsteinzeit vor etwa 7.000 Jahren in der Nähe des heutigen Ortes Goseck – etwas mehr als 20 Kilometer südöstlich von Nebra – angelegt haben: Die Kreisgrabenanlage bestand aus zwei Palisadenringen sowie einem umlaufenden Graben samt vorgelagertem Wall und verrät uns, dass ihre Erbauer den Lauf der Sonne genau beobachteten und es ihnen wichtig war, wiederkehrende Punkte im Jahreslauf zu fixieren. Mit Ausnahme des Haupteingangs im Norden haben die Zugänge der im Durchmesser 75 Meter großen Anlage nämlich astronomische Bedeutung: Die Tore im Südosten und Südwesten sind auf den Auf- und Untergang der Sonne am Tag der Wintersonnenwende ausgerichtet. Locker gestellte Pfostensetzungen in der Palisade im Nordosten und Nordwesten orientieren sich hingegen auf den Sonnenauf- und -untergang am Tag der Sommersonnenwende. Verschiedene Gruben im Innern und im Eingangsbereich liefern Hinweise darauf, wofür die Menschen die Kreisgrabenanlage genutzt haben: Spuren von Feuer, Keramik und Tierknochen, aber auch menschliche Überreste illustrieren, dass in Goseck zahlreiche Menschen zusammenkamen, Feste feierten, miteinander speisten und rituelle Handlungen vornahmen.

Aufgrund der Bedeutung der Gosecker Kreisgrabenanlage – es ist die älteste bekannte Anlage dieser Art in Deutschland überhaupt – sowie ihrer Verbindung mit der Himmelsscheibe von Nebra wurde das Sonnenobservatorium Goseck als Bestandteil der Tourismusroute Himmelswege nach dem Originalbefund wiedererrichtet.

Das Ringheiligtum Pömmelte wird als „deutsches Stonehenge“ bezeichnet.

Skelette und Pfeilspitzen

Eine ähnliche und doch in vielerlei Hinsicht andere Anlage erhebt sich seit 2016 eindrucksvoll bei Schönebeck im Salzlandkreis, vor den Toren Magdeburgs: Hier wurde das als „deutsches Stonehenge“ bekannte Ringheiligtum Pömmelte wiedererrichtet. Vor über 4.000 Jahren – am Ende des 3. Jahrtausends vor Christus und damit am Übergang von der Jungsteinzeit zur frühen Bronzezeit – bildete das beeindruckende, 115 Meter im Durchmesser messende Monument aus mehreren Palisadenringen, Wall und Graben 250 Jahre lang das rituelle Zentrum für die Menschen, die in dieser Region lebten. Im Gegensatz zum Sonnenobservatorium Goseck spielten astronomische Bezüge für die Erbauer des Ringheiligtums nur eine untergeordnete Rolle. In der Anlage selbst fanden Archäologinnen und Archäologen Überreste von Festen, die einst hier gefeiert wurden. Der Fund etlicher Pfeilspitzen aus Feuerstein legt nahe, dass die Menschen in Pömmelte etwa Wettkämpfe im Bogenschießen oder ein rituelles Abschießen von Pfeilen veranstaltet haben. Etliche Gruben, die im umlaufenden Graben angelegt worden waren, bargen Mahlsteine, Keramikgefäße und -scherben, Steingeräte und Tierknochen. Sicherlich kamen an diesem Ort also mehrere Hundert Menschen zusammen, um gemeinsam zu speisen und um gemeinsam Kultfeste und Rituale zu begehen. Einige der Gruben enthielten Skelettreste von Menschen, die gewaltsam zu Tode gekommen waren – könnte dies ein Hinweis darauf sein, dass während der Feste auch Menschenopfer stattfanden? In jedem Fall war das Ringheiligtum Pömmelte für die Menschen der Region über mehrere Generationen ein zentraler Kultort von großer Bedeutung.

So hat die Himmelsscheibe wahrscheinlich ausgesehen, bevor sie vergraben wurde.

Schiff auf der Himmelsscheibe auch aus Skandinavien und Ägypten bekannt

Um 1900 vor Christus gaben die Menschen das Heiligtum Pömmelte auf. Die Gründe dafür sind nicht bekannt, aber ungefähr zur selben Zeit blüht im Süden des heutigen Sachsen-Anhalts die sogenannte Aunjetitzer Kultur der frühen Bronzezeit auf, deren bekanntestes Relikt die Himmelsscheibe von Nebra ist. Diese wurde im Laufe ihrer Lebenszeit noch weiter verändert. An der unteren Kante brachten ihre Besitzer ein weiteres Element an, das interessanterweise eine Abkehr von der reinen, quasi wissenschaftlichen Himmelsbeobachtung hin zu einer mythologischen Darstellung bedeutet: ein goldenes Schiff. Das Motiv des Schiffes ist sowohl aus der ägyptischen als auch aus der bronzezeitlichen skandinavischen Mythologie bekannt: Hier gelangte die Sonne nachts auf einem Schiff auf die andere Seite des Horizonts.

Wohl um sie auf einer Art Standarte zu befestigen, die sie in Prozessionen mit sich tragen konnten, durchlochten ihre Besitzer die Himmelsscheibe einige Zeit später am Rand und beschädigten dabei die goldenen Bildelemente. Die letzte Phase im Leben des Objektes stellt ihre rituelle Niederlegung dar: Dabei entfernten die damaligen Akteure einen der beiden seitlichen Goldbögen und machten die Scheibe dadurch rituell unbrauchbar. Anschließend übergaben sie sie zusammen mit zwei Schwertern, zwei Beilen, einem Meißel und zwei Armspiralen als Gabe an die Götter der Erde.

Der Ort auf dem Plateau des Mittelbergs bei Nebra, an dem der bedeutende Fundkomplex mehr als 3.600 Jahre später wieder zu Tage kam, ist heute durch eine den Himmel spiegelnde Edelstahlscheibe gekennzeichnet. Ein 30 Meter hoher Aussichtsturm, der sich daneben erhebt, fungiert zugleich als Zeiger einer gewaltigen Sonnenuhr, deren Schatten einmal am Tag auf das Himmelsauge fällt. Am Fuße des Mittelbergs erhebt sich in Form eines goldenen Sonnenschiffs das 2007 eröffnete und jüngst modernisierte Besucherzentrum Arche Nebra über dem Unstruttal. Ein modernes digitales Planetarium und eine innovative und partizipative Dauerpräsentation zur Himmelsscheibe von Nebra lädt Besucherinnen und Besucher aus Sachsen-Anhalt und darüber hinaus dazu ein, die Welt der Menschen,
die die Himmelsscheibe einst schufen, ihren Blick auf den Himmel, ihre Handelsbeziehungen und handwerklichen Fertigkeiten kennenzulernen.

Dolmengöttin war möglicherweise Fruchtbarkeitssymbol

Einen Blick in den Himmel in einem anderen Sinne, nämlich als spirituellen Blick in die jenseitige Welt, ermöglicht ein weiteres vorgeschichtliches Monument: das etwa 5.500 Jahre alte Grab mit der sogenannten Dolmengöttin von Langeneichstädt im Saalekreis. Am Fuße der Eichstädter Warte, eines mittelalterlichen Wach- oder Signalturms, entdeckten Archäologen 1987 in der Abdeckung eines 5.000 Jahre alten Steinkammergrabes einen ursprünglich aufrechtstehenden, stelenartigen Sandstein, der ein stilisiertes menschliches Gesicht zeigt. In Anlehnung an westeuropäische Vorbilder deuten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die lebensgroße Figur als Dolmengöttin und mögliches Fruchtbarkeitssymbol. Vertiefungen und Löcher an verschiedenen Stellen der 1,76 Meter hohen Steinstele weisen darauf hin, dass die jungsteinzeitlichen Menschen sie, womöglich im Rahmen von Fruchtbarkeitsriten, häufig berührt und eventuell auch Gesteinsmaterial abgeschabt haben. Haben sie die Dolmengöttin schlussendlich in dem Grab verbaut, um der verstorbenen Person besonderen Schutz zuteilwerden zu lassen?

Auch wenn die Menschen, die vor Jahrtausenden hier in der Region lebten, uns zunächst fern zu sein scheinen, so zeigen uns ihre Hinterlassenschaften, dass uns doch viel mit ihnen verbindet: die Faszination für den Himmel und den Verlauf seiner Gestirne, die Vorstellung einer diesseitigen und einer jenseitigen Welt, die Bedeutung gemeinschaftlich begangener Rituale und Feste zu festgelegten Zeitpunkten. So ist es nicht verwunderlich, dass Stätten wie das Sonnenobservatorium von Goseck und das Ringheiligtum Pömmelte, und archäologische Funde wie die Himmelsscheibe von Nebra auch uns heutige noch in ihren Bann ziehen und nichts von ihrer Faszination und Aura verloren haben.

Das stilisierte Gesicht der Dolmengöttin von Langeneichstädt