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Alle anderen waren weiß

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Sachsen-Anhalt-Journal - „Osten“ (Nr. 2, 2024)

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Themen

Bildung & Vermittlung Dorfmitte & Soziokultur Gleichberechtigung & Inklusion Multikulturelles Miteinander

Als Engagementbotschafterin setzt sich Lea Argirov für die aktive Teilhabe und Repräsentation junger People of colour in Sachsen-Anhalt ein. Die Studentin ist selbst als Tochter einer Japanerin und eines Bulgaren im Dessauer Umland aufgewachsen. Das Sachsen-Anhalt-Journal hat Lea Argirov in Dessau getroffen und mit ihr an den Orten ihrer Kindheit und Jugend über ihre Erfahrungen als Person of Colour in Sachsen- Anhalt gesprochen.

In einem Punkt unterscheiden sich Osten und Westen auch 35 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer noch dramatisch voneinander: in ihrer Bevölkerungszusammensetzung. Während der deutschen Teilung kommen vor allem Menschen aus Mittelmeeranrainerstaaten als sogenannte Gastarbeiter:innen in die Bundesrepublik. In der DDR bleibt der Großteil der Vertragsarbeiter:innen aus den sozialistischen Bruderstaaten in Osteuropa, Südostasien und Afrika hingegen nicht dauerhaft im Land. Die im Vergleich zur BRD ohnehin schon kleinere ausländische Bevölkerung der DDR lebt zudem räumlich getrennt vom Rest der Gesellschaft, sodass der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung bis heute in Ostdeutschland kleiner ist. Lea Argirov gehört keiner dieser Gruppen an. Sie ist Deutsche, irgendwie auch Ostdeutsche, ganz sicher aber Sachsen-Anhalterin, denn sie ist nach der Jahrtausendwende im Dessauer Umland aufgewachsen und hat nach dem Abitur am Philanthropinum ein Freiwilliges Soziales Jahr am Bauhaus Dessau absolviert. Inzwischen studiert die junge Frau Kunst und Englisch an der Burg Giebichenstein in Halle – ein vor stolzen Sachsen-Anhalter Institutionen nur so strotzender Werdegang, den wohl nicht mal Rainer Haseloff derart lückenlos vorweisen kann. Trotzdem begegnet Lea Argirov in ihrem Leben immer wieder Menschen, denen ein flüchtiger Blick in ihr Gesicht reicht, um anzuzweifeln, dass Sachsen-Anhalt ihre Heimat ist. Denn sie ist außerdem die Tochter eines bulgarischen Vaters und einer japanischen Mutter und ähnelt daher äußerlich eher den Menschen, die zwischen Osteuropa und dem Fernen Osten leben – oder genaugenommen auch keinen von ihnen.

Migrationshintergrund, People of Colour, BIPoc?

Heutzutage werden verschiedene Begriffe verwendet, um die ethnischen Nuancen jenseits der Staatsangehörigkeit in Worte zu fassen. Im Deutschen haben sich je nach Kontext Beschreibungen wie „Menschen mit Migrationshintergrund“, „Migrationsgeschichte“ und „Migrationserfahrung“ durchgesetzt, um die Herkunft einer Person und der ihr vorangegangenen Generationen zu verdeutlichen. Analog dazu wird auch von einem „Migrationsvordergrund“ gesprochen, wenn die äußere Erscheinung einer Person nicht als ethnisch weiß oder mitteleuropäisch wahrgenommen wird. Aus einem Konzept von Weiß-Sein und damit verbundenen Privilegien, wird heutzutage häufig der englische Begriff „People of colour“ (abgekürzt PoC; wörtlich: „Menschen von Farbe“) verwendet, um sämtliche ethnische Gruppen außerhalb der weißen Mehrheitsgesellschaft in der westlichen Welt zusammenzufassen, die strukturellem Rassismus ausgesetzt sind. Die Abkürzung BIPoC, die Lea Argirov während ihres Interviews mit dem Sachsen-Anhalt-Journal häufig benutzt, erweitert diese Gruppe explizit um Schwarze (der Buchstabe B steht für englisch: „black“) und indigene („indigenous“) Bevölkerungsgruppen. Vereinzelt tragen große oder sehr sichtbare Migrantengruppen in Deutschland diasporale Bezeichnungen („Deutschtürk:innen“, „Deutschruss:innen“, „Afrodeutsche“, „Vietdeutsche“, usw.), die Menschen aus denselben Herkunftsländern mit und ohne deutsche Staatsangehörigkeit zusammenfassen. Kulturell-ethnische Bezeichnungen wie Schwarz, Weiß oder Asiatisch beziehen sich auf die gesellschaftlichen Implikationen, die eine (Nicht-)Zugehörigkeit begründen, nicht auf biologischen Eigenschaften. Deshalb ist der Begriff Rasse im Deutschen nicht nur historisch belastet, sondern auch wissenschaftlich falsch. Sämtliche Begriffe sind fortlaufend Gegenstand von Diskursen und unterliegen der Kritik von verschiedenen Seiten, etwa der, dass sich das Vokabular für die heterogenen Einwanderungsgesellschaften auf dem amerikanischen Kontinent nicht ohne weiteres auf die historisch homogenen Gesellschaften in europäischen Ländern übertragen ließen.

„Meine Mutter kam als Opernsängerin in den achtziger Jahren von Japan nach Österreich, und dann nach 1990 nach Deutschland, wo sie meinen Vater kennenlernte, der schon zuvor aus Bulgarien in die DDR gezogen war. Er war ebenfalls Opernsänger. Mit der Wiedervereinigung und der Möglichkeit, beiderseits der ehemaligen Grenze in Freiheit zu leben, entschied sich meine Mutter für den Osten. Ich glaube, einerseits war sie sicherlich neugierig darauf, was sich dort für Möglichkeiten auftun würden. Andererseits war in ihrer Vorstellung die deutsche Kulturgeschichte eine in großen Teilen ostdeutsche Kulturgeschichte: Goethe, Weimar, Bauhaus, Dessau, Händel, Bach und so weiter. Ich denke, dass diese Idee von Ostdeutschland für sie die vergleichsweise kurze Realität der DDR überlagerte. Ich bin 2001 geboren und habe noch einen älteren Bruder. Wir sind in Kleutsch aufgewachsen, einem Dorf mit 350 Einwohner:innen, das zu Dessau- Roßlau gehört, aber sehr ländlich geprägt ist. Der Sportplatz war immer der Treffpunkt für die Kinder und Jugendlichen im Dorf.

Als wir hier aufgewachsen sind, gab es weit und breit keine anderen Kinder mit Migrationshintergrund. Im Kindergarten waren alle anderen Kinder weiß. Ich glaube, dass ich schon da bemerkt habe, dass ich anders bin, denn schon in dem Alter haben andere Kinder mich wegen meines Aussehens beleidigt, etwa wegen meiner mandelförmigen Augen. In der Grundschulzeit erlebte ich deshalb auch Gewalt: Ein Mitschüler hat einmal probiert, mir die Augen auszustechen. Meine Eltern haben in solchen Situationen immer wieder an mich appelliert, mir durch diesen Rassismus nicht meine Identität absprechen zu lassen: ‚Du bist Deutsche‘, haben sie immer wieder bekräftigt und nicht ‚weniger als‘. Das habe ich verinnerlicht.

„Heute bin ich traurig, dass ich die Sprachen meiner Eltern nicht spreche.“

Lea Argirov

Ich spreche weder Bulgarisch, noch Japanisch. Es galt damals eher als Makel, wenn die Kinder von Migrant:innen mehrsprachig aufwachsen, zumindest haben meine Eltern es so empfunden. Uns ausschließlich deutschsprachig aufzuziehen war sicherlich auch internalisierter Rassismus, sprich: der Versuch, Rassist:innen schon im Vorhinein durch eigenes, verändertes Verhalten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Heute bin ich traurig darüber, die Sprachen meiner Eltern nicht zu sprechen. Ich habe meine Eltern immer als sehr stark und resilient wahrgenommen. Es ist ein großer und mutiger Schritt, alles, was man kennt, hinter sich zu lassen, in ein anderes Land zu gehen und dieses neue Land zur Heimat deiner Kinder zu machen. Die rassistischen Erfahrungen, mit denen sie sich immer wieder konfrontiert sahen, etwa im Theaterbetrieb oder in der Erziehung, haben sie weitgehend an sich abperlen lassen. Es hat sie nicht bitter gemacht, aber sie haben auch nicht viel über die Verletzungen gesprochen, die solche Situationen auslösten. Deswegen hatte ich auch lange keine Worte für den Rassismus meiner Mitmenschen.

Wenn ich als Kind mit meiner Mutter unterwegs war, haben Menschen mich immer wieder dafür gelobt, wie gut ich Deutsch spreche. Ich habe dann immer gesagt: „Danke. Ich bin in Deutschland geboren.“ In der Schulzeit habe ich als Gegenstrategie selbst Witze über mich als Asiatin gemacht, um meinen Mitschüler:innen zuvorzukommen. Heute bereue ich das. Denn teilweise habe ich damit auch die Schranken geöffnet für rassistische Witze. Die Leute denken dann: ‚Das ist ok und alles nur Spaß. Sie macht ja selbst Witze‘ – dabei ist es wirklich einfach nicht okay, rassistisches Verhalten zu reproduzieren.

„Meine bulgarische Seite interessiert niemanden.“

Lea Argirov

Der Rassismus, den asiatisch gelesenen Menschen in Deutschland erleben, ist in vielerlei Hinsicht anders als der Rassismus gegenüber anderen Gruppen. Die Mehrheitsgesellschaft benutzt Asiat:innen oft als sogenannte Modellminderheit, die sich vorbildlich integriert habe und nie beklage, weshalb es wohl nicht an der aufnehmenden Gesellschaft liegen könne, dass die Integration bei anderen, vermeintlich weniger integrationswilligen Migrant:innen nicht gelinge. Asiat:innen werden von der Gesellschaft oft positive Attribute zugeschrieben: fleißig, höflich, ordentlich, zurückhaltend, freundlich. Asiatische Frauen sind dem Klischee nach geradezu unterwürfig. Ich bin allerdings eher direkt und forsch, was dann oft für Irritationen sorgt. Interessanterweise erlebe ich quasi ausschließlich Rassismus, der auf mein asiatisches Aussehen abzielt. Meine bulgarische Seite interessiert hingegen niemanden. Mein Bruder, der weniger asiatisch aussieht, hat ganz andere Erfahrungen gemacht als ich. Im Englischen nennt man das „passing“, wenn eine Person of colour für eine weiße Person durchgeht. Es ist deshalb für mich heute schwer, mit ihm über Rassismus zu sprechen.

Während meiner Kindheit und Jugend in Dessau gab es immer wieder Situationen, in denen ich gemerkt habe, dass mein kultureller Referenzrahmen anders ist: Das fängt beispielsweise damit an, dass meine Eltern uns nie den Struwwelpeter vorgelesen und nie zuhause deutschsprachige Schlagermusik gehört haben. Es gibt manche deutsche Sprichwörter, die meine Eltern nicht kennen und somit auch nie benutzen. Oder wichtige Momente in der deutschen Geschichte, die nichts mit mir und meiner Familiengeschichte zu tun haben. Im Geschichtsunterricht haben wir einmal die Hausaufgabe bekommen, unsere Eltern und Großeltern nach einem Gegenstand aus der DDR-Zeit zu fragen und diesen mitzubringen. Sowas gab es bei uns nicht. Ich konnte die Hausaufgabe nicht richtig erfüllen. Ich habe dann Anis mitgebracht – ein Gewürz, mit dem meine Mutter viel kochte. Um Japan ging es in meinem Geschichtsunterricht eigentlich nur einmal – wegen der Atombomben.

Rund 245.000 Menschen in Sachsen-Anhalt haben einen Migrationshintergrund – das entspricht 11,4 Prozent der Bevölkerung. 8,1 Prozent der Einwohner Sachsen-Anhalts haben eine ausländische Staatsangehörigkeit. Unter allen Bundesländern sind das jeweils die drittniedrigsten Werte. Aus Zahlen des Statistischen Landesamtes geht hervor, dass unter den insgesamt rund 181.000 Ausländer:innen in Sachsen-Anhalt Menschen mit ukrainischer (37.800), syrischer (28.800), polnischer (14.200), rumänischer (11.000) und afghanischer (8.900) Nationalität die größten Gruppen bilden. Für den Osten (ohne Berlin) sind die Zahlen in Sachsen- Anhalt durchschnittlich: 11,4 Prozent der Bevölkerung in den ostdeutschen Flächenländern sind Migrant:innen in erster oder zweiter Generation und 8,0 Prozent besitzen eine andere als die deutsche Staatsangehörigkeit.

„Sachsen-Anhalt ist ein Underdog. Und ich habe ein Herz für Underdogs.“

Lea Argirov

Die Weltkulturerbestätte Bauhaus Dessau war der Arbeitsplatz von Lea Argirov während ihres Freiwilligen Sozialen Jahres.

Migrantisch, ostdeutsch, ohne Community

Mit meiner ostdeutschen Identität habe ich mich eigentlich erst gegen Ende meiner Schulzeit befasst. Wir waren mal auf Klassenfahrt in Bremen und ich erinnere mich, dass sich dort Menschen im Café auf Englisch miteinander unterhielten. Das war da völlig normal, aber ich kannte das aus Dessau so nicht. Ich habe bei Besuchen im Westen immer dieses Gefühl, dass es einfach mehr angenommen wird, dass Menschen unterschiedlich aussehen und unterschiedliche Geschichten haben. Keine:r starrt einen an und keine:r behandelt dich deswegen anders. Es spielt einfach keine so große Rolle. In Berlin finde ich es krass, wie viele Menschen mir dort auf der Straße begegnen, die mir ähnlichsehen. Ich frage mich dann, wie es für mich gewesen wäre, mit einer großen Community aufzuwachsen. Ich denke, dass mich diese Erfahrung von westdeutschen People of colour unterscheidet. In Dessau gab und gibt es zum Beispiel einige heftige Fälle rechter Gewalt gegen BIPoC – Alberto Adriano, Oury Jalloh, Li Yangjie – die eine völlig neue Angst in mir auslösten.

Wenn westdeutsche Kommiliton:innen mit Migrationshintergrund mir von ihren Rassismuserfahrungen erzählen, merke ich immer, dass die Anwesenheit einer Community einen großen Unterschied macht. Gleichzeitig sind meine Erfahrungen auch völlig andere als die von vietdeutschen Altersgenoss:innen in Ostdeutschland, deren Eltern ja in der Regel schon zu DDR-Zeiten hier waren. Es gibt migrantisches Leben in Sachsen-Anhalt, aber es ist wenig sichtbar. In Halle-Neustadt gibt es tolle, gut funktionierende Communities – das geht bei all der negativen Berichterstattung über den Stadtteil allerdings meistens unter. Im öffentlichen Diskurs heißt es oft: ‚Wir müssen mehr für Migrant:innen tun‘ – das stört mich. Migrant:innen können selbst Dinge tun. Migrant:innen können Subjekt ihrer eigenen Geschichte sein. Deshalb engagiere ich mich im Jugendstil*-Projekt, das Migrant:innen dabei unterstützt, ihre eigenen Ideen umzusetzen.

Viele meiner Altersgenoss:innen, insbesondere diejenigen mit Migrationshintergrund, wollen Sachsen-Anhalt schnellstmöglich verlassen – in der Regel Richtung Leipzig oder Berlin. Ich verstehe das, aber irgendwie fühlt es sich für mich wie der einfache Ausweg an. Ich will lieber in Sachsen-Anhalt bleiben und daran arbeiten, dass Sachsen-Anhalt lebenswerter für Menschen mit Migrationshintergrund und junge Menschen wird. Klar ist alles kleiner in Dessau und Halle, aber wenn man hier als junge Person irgendwo anklopft, werden einem auch schnell Türen geöffnet – wie aktuell in meinem Amt als Engagementbotschafterin im Kulturbereich. Mein Wirkungskreis wäre in Leipzig oder Berlin sicherlich nicht so groß. Ich glaube, dass es wichtig ist, große Visionen oder Utopien zu haben. Aber bevor man daran scheitert, die großen Probleme der Welt zu lösen, lässt sich in kleinen, lokalen Kontexten oft viel mehr anstoßen und zum Positiven verändern. Sachsen-Anhalt ist in vielerlei Hinsicht ein Underdog – ein Bundesland, das niemand auf dem Schirm hat. Und ich habe schon immer ein Herz für Underdogs, denen nicht jeder Erfolg gleich in den Schoß fällt. Als Person of colour macht man‘s sich sicherlich nicht leicht, wenn man sich dafür entscheidet, in Sachsen-Anhalt zu leben. Aber, mal ehrlich, wer sucht schon den leichtesten Weg? Ich nicht.“

Ende des 18. Jahrhunderts war der Schulalltag am Philanthropinum Dessau Ausdruck eines völlig neuen, aufklärerischen und menschenfreundlichen Geists, der wenig auf althergebrachte Konventionen gibt. Am Philanthropinum hat Lea Argirov ihr Abitur abgelegt.